Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
Flur mit hohen, weißen Türen. Es stank überall nach Desinfektionsmittel, schärfer als Katzenpisse, doch das genügte nicht ganz, um den Geruch nach Krankheit und Tod zu übertünchen. Von Élodie war nichts zu sehen. Sie war schon fort, als hätte es sie nie gegeben. In einem Zimmer lag Celeste auf einem einzelnen Kissen. Ihr Kiefer war schlaff und das Haar wie um ihren Kopf verschmiert, pechschwarz und glitschig. Über ihr hing ein spinnenartiges Ding aus Draht, an ihrem Arm war eine Nadel mit einem Schlauch fest geklebt, und ein Bluterguss verfärbte ihren Unterarm. Ihre Lippen waren weiß, die Augen geschlossen. Sie schien tot zu sein, und Dimity wunderte sich, weil das anscheinend noch niemand bemerkt hatte, doch dann sah sie, wie sich der Brustkorb kaum merklich hob und senkte. Sie konnte nicht aufhören, die Frau anzustarren, so genau hinzuschauen, dass sie einen flatternden Pulsschlag unter der dünnen Haut an ihrem Hals erkannte.
»Folgen. Das wird Folgen haben«, sagte Charles, und die Worte trafen Dimity wie ein Stromschlag. Ihr Blick schoss zu ihm hoch, doch er starrte Celeste an. Seine Stimme war wie gebrochen. »Der Arzt sagt – dass sie vielleicht nie wieder dieselbe sein wird. Schierling hat viele Nebenwirkungen. Gedächtnisverlust … Sie wird sich an die letzten Tage nicht vollständig erinnern können. Sie wird verwirrt sein. Zittern. Es wird eine Weile dauern, bis diese Auswirkungen nachlassen, und sie wird womöglich …« Er unterbrach sich und schluckte. »Sie wird womöglich nie wieder sie selbst sein. So wie sie vorher war. Meine Celeste.«
Auf der anderen Seite des Bettes saß eine jämmerliche Gestalt. In sich zusammengekrümmt, als versuchte sie, gar nicht mehr da zu sein. Delphine. Sie weinte ununterbrochen, bebte dabei fast ebenso heftig wie ihre Mutter, ehe sie das Krankenhaus erreicht hatten, und die Laute, die sie von sich gab, waren schrecklich – wie das hilflose Wehklagen eines Kaninchens in der Schlinge, aber leise, so leise. Dimity starrte sie an, und langsam hob Delphine den Kopf und begegnete ihrem Blick. Ihre Augen waren ganz rot, blutunterlaufen und beinahe zugeschwollen. Doch da war neben der abgrundtiefen Trauer noch etwas, das Dimity den Atem verschlug. Es war unerträglich, es zu sehen, und sie wandte sich ab, taumelte ein paar Schritte und sank gegen eine Wand. Langsam ließ sie sich daran hinabgleiten, bis auf den Boden. Niemand schien das zu bemerken oder für außer gewöhnlich zu halten. Sie steckte sich die Fingerspitzen in den Mund und biss darauf, bis sie bluteten, doch sie spürte nichts. In Delphines Augen stand Schuld. Eine alles verzehrende, giftige Schuld.
Eine Weile später saß Dimity wieder auf der Bank im Gang. Sie wusste nicht, wie sie dorthin gekommen war. Stimmen weckten sie – Männerstimmen, die sich am Durchgang zu den Krankenzimmern leise stritten. Sie rieb sich die Augen und versuchte, etwas zu erkennen. Charles Aubrey und ein anderer Mann, groß und dünn, mit stahlgrauem Haar. Sie erkannte ihn als Dr. Marsh, einen der Ärzte, die regelmäßig nach Blacknowle kamen, um jene zu heilen, die zu krank für Valentinas Mittel waren.
»Ich muss das festhalten, Mr. Aubrey. Das lässt sich nicht vermeiden«, erklärte der Arzt.
»Sie können doch einen Teil der Wahrheit schreiben, ohne die ganze Wahrheit zu benennen. Das müssen Sie so gar. Meine Tochter … Meine Tochter würde sich am liebsten das Herz aus dem Leib reißen. Wenn Sie als Todesursache Vergiftung eintragen, wird es eine amtliche Untersuchung geben, nicht wahr?«
»Ja.«
»Dann flehe ich Sie an, vermerken Sie etwas anderes! Sie wird das den Rest ihres Lebens mit sich herumtragen. Wenn die Sache öffentlich gemacht wird … Wenn die ganze Welt weiß, was sie getan hat, ganz gleich, dass es ein furchtbares Versehen war … Es würde sie zugrunde richten. Verstehen Sie? Es würde sie zugrunde richten!«
»Mr. Aubrey, ich kann Ihre Bedenken verstehen, aber …«
»Nein! Kein Aber! Dr. Marsh, ich flehe Sie an – es kostet Sie doch nichts, als Todesursache irgendeine Magen-Darm- Erkrankung einzutragen. Aber Delphine würde es teuer be zahlen, wenn Sie es nicht tun. Bitte. « Charles packte den Arzt am Arm und sah ihm direkt in die Augen. Die Verzweiflung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Der Doktor zögerte. »Ich bitte Sie. Wir haben schon genug gelitten. Und wir werden noch sehr viel mehr ertragen müssen.«
»Also schön.« Der Arzt schüttelte den Kopf und seufzte.
»Danke.
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