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Das verborgene Lied: Roman (German Edition)

Das verborgene Lied: Roman (German Edition)

Titel: Das verborgene Lied: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Webb
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lang war sie sicher, dass sie stürzen würde. Sie hatte keine Kraft mehr, ihre Knochen waren zu Sand zerfallen und davongeweht. Was sie getan hatte. Delphine war bei ihr, zog sie hoch, half ihr auf.
    »Beeil dich, Mitzy! Komm schon!« In Delphines aufgeregter Stimme hörte Dimity die Überreste einer gefährlichen Hoffnung. Doch es gab keine Hoffnung, und das hätte sie am liebsten laut herausgeschrien, damit sie das Ding, das sie trug, endlich ablegen konnte. Das kleine tote Etwas. Ihre Schritte echoten im Eingangsflur des Krankenhauses, und das Licht vieler Glühlampen blendete sie. Charles rief mit schallender Stimme um Hilfe. Dann nahmen starke Arme in weißen Ärmeln ihr Élodie ab, und Dimity sank erleichtert auf die Knie.
    Sie wurde allein zurückgelassen und wartete. Eine Zeit lang blieb sie reglos auf den Knien im Flur hocken, der plötzlich ganz still war, nachdem die Aubreys von einem Grüppchen grimmig dreinblickender Leute weggeführt wor den waren. Sie hätte ihnen folgen können, doch sie war zu schwach, um sich zu rühren. Schließlich stand sie langsam auf und wartete und versuchte, nicht nachzudenken. Etwas schellte in ihrem Kopf, wie das durchdringende Summen nach einem Glockenschlag – ohrenbetäubend, lähmend. Eine Last drückte sie unerbittlich nieder. Es war etwas Schweres, Unleugbares, das man nicht mehr ändern konnte, wenn es einmal getan war. Irgendwann ließ sie sich zu einem weiteren langen, leeren Flur führen, wo hölzerne Bänke an einer Wand aufgereiht waren. Die Person, die sie dorthin brachte, war anonym und gesichtslos, eine völlig andere Spezies als Dimity, vollkommen unbegreiflich. Eine Tasse Tee wurde neben sie hingestellt, aber Dimity hatte keine Ahnung, was sie damit tun sollte. Sie setzte sich und starrte die Wand gegenüber an. Tage vergingen, Wochen, Monate, oder auch nur die Zeitspanne zwischen einem mühsamen Herzschlag und dem nächsten – sie konnte keinen Unterschied mehr erkennen. Draußen war es dunkel, und die Beleuchtung in dem Gang spendete nur ein trübes Licht. Hin und wieder hörte Dimity ein Echo, Schritte, leises Schnarchen, wortlose Schreie von weit, weit weg. Die körperlosen Laute trieben wie Geister durch den Flur. An ihren Schuhen klebte san diger Matsch, der getrocknet war und nun abbröckelte. Sandiger Matsch aus dem Graben, wo der Kuhtod wuchs. Am liebsten hätte Dimity einfach nicht mehr existiert. Sie wünschte, sie wäre auch ein Gespenst, das verloren und ganz allein durch die Flure wandelte.
    Es war hell draußen, als Charles aus einer Tür kam. Mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf trat er auf den Flur. Er bewegte sich wie ein Schlafwandler, stumpf und ohne Wahrnehmung. Als er Dimity bemerkte, kam er zu ihr und blieb vor ihr stehen, doch er sagte nichts.
    »Charles?«, fragte sie. Er blinzelte, hob den Blick zu ihrem Gesicht und setzte sich dann neben sie. Seine Haut war grau, er hatte violette Schatten unter den Augen. Er versuchte zu sprechen, aber seine Kehle war zugeschnürt. Er musste sich räuspern und es noch einmal versuchen.
    »Celeste«, sagte er. Das Wort klang wie ein Vorwurf, wie ein Flehen. »Celeste wird es schaffen, glauben sie. Sie haben ihr etwas gegeben – gegen die Krämpfe. Sie bekommt auch noch Medizin durch einen Schlauch in eine Vene. So etwas habe ich noch nie gesehen. Aber Élodie … Meine kleine Élodie.« Das Wort brach zu einem Schluchzen zu sammen. »Sie haben sie fortgebracht. Sie war nicht stark genug. Sie konnten nichts mehr für sie tun.« Das waren nicht seine Worte, erkannte Dimity. Es waren Worte, die jemand zu ihm gesagt hatte und die er nun stumpf wiederholte, weil er keine eigenen Worte dafür hatte.
    »Ich wusste, dass sie tot ist«, stieß Dimity atemlos hervor. Etwas presste ihr die Brust zusammen, immer fester, und es tat ihr weh. »Ich wusste, dass sie tot war, als ich sie hereingetragen habe. Ich wusste es. Ich wusste es!«, keuchte sie. Charles wandte den Kopf und sah sie an, als hätte er kein Wort verstanden. Er konnte sie nicht einmal richtig sehen, erkannte sie nun. Ich bin ein Geist, ein Echo. Ja, lass es bitte so sein. Sie wollte ihn berühren, doch dazu hätte sie wieder ihre Gestalt aus Fleisch und Blut annehmen müssen. Dann würde alles wieder wirklich sein. Sie saßen eine Weile schweigend nebeneinander, dann stand Charles auf und verschwand wieder durch die Tür, und Dimity, mitgezerrt von der Kette um ihr Herz, folgte ihm.
    Hinter der Tür lag ein weiterer, viel kürzerer

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