Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
mit milder Wärme und trockenen Winden, die die Mohnblumen schüttelten und die winzigen schwarzen Samen auf goldenen Feldern und vertrockneten Rasenflächen verteilten. Vor dem Laden und im Pub wurde von Krieg gemunkelt, von finsteren Wolken im Osten, von Polen und drohenden schlechten Zeiten, doch Dimity schenkte alldem keine Beachtung. Solche Dinge spielten keine Rolle, nicht in Blacknowle. Bis hierher drang nichts vom Rest der Welt vor, dieser großen, fernen Welt, die Charles ihr zeigen wollte. Er hatte es versprochen. Sie brauchte nur zu warten, sagte sie sich. Sie musste nur noch ein bisschen länger abwarten, und dann würde das richtige Leben beginnen – dieser Schwebezustand, in dem sie gefangen war, würde bald enden.
Eines Tages fand sie Celeste im Garten auf einem Liegestuhl, die Beine wenig elegant gespreizt, als hätte jemand sie achtlos dort abgelegt und sich nicht die Mühe gemacht, sie ordentlich zu arrangieren. Die Kraft der Sonne reichte nicht aus, um sie zu wärmen. Celestes Haar war frisch gewaschen und gekämmt, und trotzdem wirkte sie halb tot. Die Sehnen an ihrem Hals standen unter der Haut hervor. Sie er schien Dimity roh, entblößt. Nur zu leicht konnte man den ken, dass Celeste nichts mitbekam und man sie ignorieren konnte. Dimity durchforstete das Haus, stellte fest, dass Charles nicht da war, und wollte gerade wieder an Celeste vorbei zum Tor gehen, als diese mit überraschender Kraft Dimitys Hand packte.
»Du. Mitzy Hatcher. Du glaubst, ich hätte mein Gedächt nis verloren, und es stimmt, dass ich mich an manches nicht erinnern kann. Aber das betrifft nicht alles. Wenn ich dich sehe, habe ich so ein Gefühl im Bauch, wie eine Warnung. Als würde ich aus großer Höhe nach unten schauen und spüren, wie ich abrutsche. Gefahr, das fühle ich, wenn ich dich sehe. Gefahr für mich.« Sie ließ Dimitys Hand nicht los und hielt den Blick weiter auf sie gerichtet. Dimity versuchte, sich loszureißen, doch es gelang ihr nicht. Celestes Finger waren wie Eisen, kühl und hart. »Du bist schuld, nicht wahr?«, sagte sie, und Dimity wurde eiskalt. Angst durchfuhr sie, und alles in ihr zog sich zusammen.
»Was? Nein, ich …«
»Doch! Du bist schuld! Ich habe gesehen, wie du danebengestanden und geschwiegen hast, während Delphine vor deinen Augen all das ertragen musste. Wie du zugelassen hast, dass sie alle Schuld auf sich nimmt. Aber wenn du nicht gewesen wärst, hätte sie niemals irgendwelche wild wachsenden Pflanzen geerntet. Ohne dich wäre sie gar nicht auf die Idee gekommen. Wenn du meine Mädchen nicht nur benutzt hättest, um dich an ihren Vater heranzumachen, hätte sie nie allein losziehen müssen, um dann das falsche Kraut zu pflücken. Sie hat diesen Fehler gemacht, aber du bist die Ursache dafür. Glaub nicht, dass du einfach so weiterleben könntest, ohne diese Last mit ihr zu teilen. Du musst sie mit ihr teilen!« Sie schleuderte Dimitys Hand von sich, und Dimity spürte Tränen über ihr Gesicht laufen. Es waren Tränen der Erleichterung, doch Celeste deutete sie falsch und blickte seltsam befriedigt drein. »So. Schon besser. Ich habe dich noch nicht um Élodie weinen sehen, aber zumindest sehe ich dich jetzt weinen, wenn auch nur aus Selbstmitleid.«
»Ich wollte Élodie nichts antun«, sagte Dimity. »Das habe ich nicht gewollt!«
»Es ist aber geschehen. Mein Baby ist tot. Meine kleine Élodie kommt nie mehr zurück …« Ihre Stimme versagte, und eine Zeit lang waren nur ihre mühsamen Atemzüge und das ferne Zischeln der See zu hören. »Wie sehr wünschte ich …«, sagte Celeste Minuten später. »Wie sehr wünschte ich, wir wären nie hierhergekommen. Wie sehr ich mir das wünsche. Hilf mir auf.«
Dimity tat, was ihr befohlen wurde, nahm Celeste beim Arm und half ihr, von dem Liegestuhl aufzustehen. Sie spazierte mit ihr aus dem Garten und über die Wiese in Richtung Meer. »Bring mich bis ganz an den Rand. Ich will das Meer sehen«, sagte Celeste, und Dimity gehorchte. Celestes Schritte waren inzwischen ruhig und sicher, das Zittern überkam sie viel seltener und weniger stark ausgeprägt. Dimity merkte bald, dass Celeste gar keine Hilfe beim Gehen brauchte. Dennoch hielt sie Dimitys Arm mit einer Hand umklammert und blickte immer geradeaus, fest entschlossen. Auf einmal wurde Dimity unheimlich zumute, obwohl sie nicht genau wusste, warum. Gefahr, genau wie Celeste gesagt hatte. Irgendein Instinkt sträubte ihr die Härchen im Nacken. Sie gingen auf den Rand
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