Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
Wacht meister Dibden kam auch, hielt jedoch pietätvoll Abstand zu Dimity. Wilf Coulson war da und sein Vater, was Dimity überraschte. Sonst hatte keiner von Valentinas Besuchern es gewagt, sich blicken zu lassen. Die Brocks von der Southern Farm standen dicht beisammen, die Hände andächtig verschränkt. Noch immer weinte Dimity nicht. Sie warf die erste Handvoll Erde auf den Sarg, nachdem der Pfarrer eine kurze Predigt gehalten hatte, und ertappte sich bei einem Gebet darum, dass Valentina auch da unten bleiben würde. Plötzliche Angst erfasste sie wie eine Sturmböe, und sie taumelte, bückte sich nach einer weiteren Handvoll Erde und warf sie der ersten hinterher. Wenn die Leute sie nicht hätten sehen können, wäre sie wahrscheinlich auf die Knie gefallen und hätte den ganzen Aushub mit bloßen Händen wieder hineingeschaufelt. Begraben, begraben. Fort. Sie ballte die Fäuste, um sich zu beruhigen, und sah niemandem in die Augen, als sie sich auf den Heimweg machte. Keine Gespräche, kein Leichenschmaus. Keine Beileidsbekundungen. Wachtmeister Dibden eilte ihr nach und versuchte, sie über den Stand der Ermittlungen zu informieren, aber in Wahrheit gab es da nichts zu berichten. Er versicherte ihr, dass alles getan werde, um herauszufinden, wer in jener Nacht bei ihrer Mutter gewesen sei, doch der Verzeihung heischende Ausdruck in seinen Augen sagte etwas anderes. Die Polizei hatte wenig Hoffnung, ihn zu finden, weil sie auch nicht gerade angestrengt nach ihm suchte. Es gab andere, dringendere Fälle aufzuklären. Sie waren nicht einmal sicher, dass überhaupt ein Mord geschehen war. Valentinas Erstickungstod hätte auch ein Unfall sein können, hervorgerufen durch die Aktivitäten, in die sie eben verwickelt gewesen war. Und letztendlich war es der Polizei schlicht gleichgültig. Valentina war kein großer Verlust für die Gesellschaft, abgesehen von ihren Besuchern würde sie niemand vermissen, und die blieben lieber schweigend anonym. Sie hat bekommen, was sie verdient hat, dachte Dimity, und sie wusste, dass viele andere genauso dachten.
Als sie nach der Beerdigung The Watch erreichte, hinter der letzten Kurve außer Sicht möglicher Beobachter war, straffte sie die Schultern, richtete sich auf, und ein freudiges Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Charles weinte vor Erleichterung, als sie ihn aus dem Abtritt holte und ihm sagte, alles sei vorbei, jetzt werde niemand mehr kommen. Er klammerte sich an sie und weinte wie ein Kind.
»Du musst mich verstecken, Mitzy! Ich kann nicht dorthin zurück«, nuschelte er. Dimity hielt ihn in den Armen und sang ihm etwas vor, bis der Weinkrampf abgeklungen war. Dann gingen sie zusammen ins Haus, langsam wie zwei Verwundete, und sie schloss die Tür hinter ihnen.
»Aber – ich habe gehört, wie sich hier oben jemand bewegt hat. Ganz deutlich! Ich bin sicher … Sie haben es doch auch gehört, nicht wahr, Dimity?«, sagte Zach. Er wartete auf eine Antwort, doch die alte Frau schien völlig in ihrer eigenen Welt verloren. Als er ihre Hand ergriff, richtete sich ihr Blick auf ihn, doch der war vage, abwesend. Hannah schüttelte den Kopf.
»Du weißt doch, dass alte Häuser knarren, als hätten sie ein Eigenleben. Außerdem ist das Fenster schon ewig kaputt. Ich habe ihr angeboten, es zu reparieren, aber sie hat sich strikt geweigert. Weil wir dann die Tür hätten aufmachen müssen, nehme ich an. Aber der Wind pfeift schon seit Monaten hier herein, weht Papier herum, und die Dielen sind feucht …«
»Nein, ich habe einen Menschen gehört. Da bin ich sicher «, beharrte Zach. Hannah warf die Hände in die Luft und ließ sie hilflos wieder sinken.
»Das ist nicht möglich, Zach. Außer, du glaubst plötzlich an Gespenster.« Das war als beiläufiges Abtun gemeint, doch Zach fiel auf, dass Dimitys Blick bei Hannahs Worten flackerte und ihr dann folgte, während sie rastlos im Zimmer auf und ab ging. Zach holte tief Luft und fragte sich, in welch surreale Welt er heute Abend hineingestolpert war. Eine merkwürdige Welt, in der er durch nächtliche Dun kelheit floh, Menschen schmuggelte, sich vor der Polizei ver steckte und in der eine gewaltige Kunstsammlung verborgen war, wie ein vergrabener Schatz, hinterlassen von einem Mann, der seinen dokumentierten Tod lange überlebt hatte. Nichts von alledem kam ihm ganz real vor.
Es war schon spät, als Zach und Hannah noch am Küchentisch vor Bechern mit kalt gewordenem Tee saßen. Ilir wachte im Wohnzimmer
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