Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
darauf, noch jemanden willkommen zu heißen. Das fahle Morgenlicht färbte das Gesicht ihrer Mutter silbrig und tauchte ihr Haar in Grau und Weiß. Sie war bei nahe schön, erkannte Dimity. Die Wangenknochen beschrieben einen feinen Bogen unter den Augen, ihre Nase war zart und feminin, die Lippen immer noch üppig. Doch selbst ganz entspannt im Schlaf blieben die Spuren ihrer gewohnten Mimik, die sich in die Haut eingegraben hatten. Die Furche zwischen den Brauen, die verächtlichen Falten auf ihrer Stirn, die bitteren Klammern an den Mundwinkeln und die feinen Fältchen an der Oberlippe, die sie über grausamen Worten schürzte. Ihre Brust hob und senkte sich vollkommen gleichmäßig. Dimity schaute auf sie herab und dachte, wie klein Valentina doch aussah, wie verletzlich. So hatte sie noch nie über ihre Mutter gedacht, aber nun kam der Gedanke mit plötzlicher Klarheit. Verletzlich . Valentina war immer da gewesen, der bittere Kern in ihrem Leben. Du warst immer da, um für mich alles noch schlimmer zu machen, sagte Dimity ihr stumm. Die Brust ihrer Mutter hob und senkte sich, ihr Atem strich ein und aus, ein und aus. Dimity sah zu, und bald bewegte sich ihr Atem im gleichen Rhythmus. Diese kurze Zeitspanne lang herrschte zwischen ihnen vollkommene Harmonie. Doch als Dimity ein Weilchen später den Raum verließ, hatte sie eigenartige Schmerzen in den Fingern, und ihr eigener Atem war das einzige Geräusch, das sie wahrnahm.
Dimity versteckte Charles, als die Polizei kam. Sie führte ihn vorsichtig aus ihrem Schlafzimmer und hinaus auf den Hof und drückte ihn sanft auf den hölzernen Sitz des Abtritts nieder. Zunächst verstand er anscheinend nicht, wer kam und warum er sich verstecken sollte. Als sie es ihm noch einmal erklärte, glaubte er, die Polizei käme seinetwegen und man wolle ihn zurück an die Front bringen. Er zitterte am ganzen Körper, und sie drückte einen langen, beruhigenden Kuss auf seine Lippen, ehe sie ihn allein ließ.
»Sie werden dich nicht finden. Sie suchen gar nicht nach dir. Versprochen«, versicherte sie ihm. Schweiß trat ihm auf die Stirn und rann an den Schläfen hinab. Dimity tat es im Herzen weh, ihn so zu sehen. Sie verriegelte die Tür, ging wieder nach drinnen und wartete auf Police Constable Dibden. Der Wachtmeister war ein junger Mann, dessen Mutter Valentina gut kannte, wenngleich sein Vater sie noch besser gekannt hatte. Zumindest, bis er wenige Stunden nach einem besonders anstrengenden abendlichen Besuch an einem Herzanfall gestorben war, vor drei Jahren. Der junge Mann war auf verlegene Art fasziniert von Valentinas Leichnam und schaute immer wieder dorthin, während er Dimitys Aussage aufnahm und auf seine Vorgesetzten wartete.
Valentina lag in derselben Position, in der sie geschlafen hatte – auf dem Rücken mit hochgereckten Armen. Dimity warf auch einen Blick auf sie, während sie dem Polizisten erzählte, dass Valentina am Abend zuvor einen Besucher empfangen habe. Sie behauptete, sein Gesicht nicht gesehen zu haben, nur seinen Hinterkopf, als er ins Schlafzim mer ihrer Mutter gegangen war. Sie warf einen weiteren Blick auf ihre Mutter, um sich zu vergewissern, dass ihre Brust reglos blieb und ihr Atem nicht wieder einsetzte. Dass die Augen noch geschlossen waren. Sie war argwöhnisch, denn Valentina hatte ihr noch nie etwas leicht gemacht. Sie beschrieb den Mann, den sie angeblich gesehen hatte – mittelgroß, durchschnittlich gebaut, kurzes braunes Haar, eine dunkle Jacke von der Art, wie sie jeder Mann im Umkreis von fünfundsiebzig Kilometern besaß. Wachtmeister Dibden notierte all das pflichtbewusst und mit einem Gesichts ausdruck, der ihr sagte, wie wenig diese Angaben dabei nützen würden, den Mörder zu finden. Es waren keine Würge male an Valentinas Hals zu sehen, es gab überhaupt keine Anzeichen von Gewalt. Es war möglich, erklärte der Polizist, dass Valentina eines natürlichen Todes gestorben und der Besucher in Panik geflohen war. Dimity stimmte zu, dass das gut sein könnte. Sie nagte an ihrem Daumennagel, bis die Fingerkuppe blutete, doch nicht einmal das trieb ihr Tränen in die Augen. Schock, sagte Wachtmeister Dibden zu dem Bestatter, der Valentina später am Vormittag hinaus brachte, während Polizisten das Schlafzimmer und das Trep pengeländer mit Staub einpinselten, um Fingerabdrücke zu nehmen. Sie würden Hunderte davon finden, da war Dimity sicher. Hunderte und Aberhunderte.
Die Beerdigung war kurz und nur spärlich besucht.
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