Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
Braun, das Weiß des Augapfels vom Rauch gelb verfärbt. Charles starrte in dieses Auge, dessen Farbe ihn absurderweise an Crème Caramel erinnerte. Haut und Fleisch des Mannes waren scharlachrot, orange und schwarz, aufgesprungen, nässend, klebrig. Die Fliegen ließen sich bereits darauf nieder. Charles blieb eine gute halbe Stunde lang bei ihm, weil er den Blick nicht von diesem verblüfften, mit leiderregenden Auge abwenden konnte. Der Rest seiner Einheit war weitergezogen. Er blieb liegen, versteckt im hohen Gras, und das panische Grauen davor, zurückgelassen zu werden, mischte sich mit dem Entsetzen beim Gedanken daran weiterzugehen.
Allmählich wurde es ruhiger um ihn herum, und ein farbiges Blitzen erregte Charles’ Aufmerksamkeit. Die Sonne war hinter Wolken und Rauch hervorgekommen und schien auf die Erkennungsmarken des Toten. Sie waren auf die weniger verbrannte Seite seiner Brust geschleudert worden und ruhten an seiner Schulter, noch an ihrer verkohlten Lederschnur. Er hatte sonst nichts bei sich, was ihn hätte identifizieren können. Keine Abzeichen, keine Papiere. Charles musterte ihn von Kopf bis Fuß und schätzte, dass sie beide etwa gleich groß waren. Er streckte die Hand nach den Erkennungsmarken aus, um den Namen darauf zu lesen, doch sie klebten an der verbrannten Haut, waren regelrecht darin eingeschmolzen. Er musste die Fingernägel in die Schulter des Toten boh ren und sie herausreißen, und dabei schossen Schmerz und Entsetzen wie ein Stromschlag durch seinen eigenen Körper, denn er spürte deutlich, wie weh das tun musste.
Er wimmerte, als er die Marken endlich losbekam. Mit dem Daumen wischte er die ekligen Hautreste ab und las den Namen. F. R. Dennis. Unter den kreisförmigen Löchern, wo die beiden Scheiben gesessen hatten, schimmerte weißlicher Knochen durch das Schwarz und Rot. Charles hob den kahlen, ledrig verschrumpelten Schädel an, um die Lederschnur darüberzuziehen. Dann nahm er seine eigenen Erkennungsmarken ab und legte sie Dennis um den Hals. Er passte sie in die Löcher an dessen Schulter ein, so dass der Knochen wieder bedeckt war. Dann hängte er sich Dennis’ Marken um und trat zurück. Irgendetwas klebte an seinen Händen und unter seinen Fingernägeln. Es waren Fetzen und Klümpchen von Dennis’ verbrannter Leiche. Wimmernd und verzweifelt wischte er sich die Hände am hohen Gras ab, dann erbrach er sich, bis er das Bewusstsein verlor. Als er es endlich an den chaotischen Strand geschafft hatte, an dem sich die Männer unter stetem Beschuss dräng ten, wurde er von einem Offizier, den er nicht kannte, in ein kleines Boot gesetzt. Auf den müsst ihr aufpassen, sagte der Offizier zu irgendjemandem an Bord. Ich weiß nicht, was ihm zugestoßen ist, aber ich glaube, er ist durchgedreht.
» F. R. Dennis? Also war der Tote, der all die Jahre lang in Charles Aubreys Grab lag, in Wirklichkeit dieser F. R. Dennis?«, fragte Zach. Hannah nickte. »Ich war an diesem Grab. Ich habe sogar Blumen mit dahingenommen. Ich hätte beinahe gebetet, Herrgott noch mal!«
»Mr. Dennis wusste das sicher zu schätzen«, sagte Hannah leise. Zach trommelte erregt mit den Fingernägeln auf die Tischplatte und überlegte fieberhaft.
»Das ist einfach unglaublich. Dass ein derart bedeutender Mann noch so lange weitergelebt hat, nachdem ihn alle Welt für tot hielt …« Er schüttelte den Kopf, und das ganze Ausmaß dieser Entdeckung beschleunigte seinen Puls. »Ein fach unglaublich … Und die Bilder?«
»Sämtliche Werke der letzten sechzig Jahre seines Lebens. Nun ja, alle bis auf drei oder vier, um genau zu sein.«
»Die Bilder, die versteigert wurden?«, fragte Zach. Hannah nickte. »Du hast sie für Dimity verkauft?«
»Für sie und für mich. Wir haben das Geld gebraucht.«
»Für dich?« Zach starrte Hannah einen Moment lang an, während er das überdachte. »Du meinst – sie hat dir diese Zeichnungen gegeben, und du hast sie verkauft?«
»Nicht direkt.«
»Du hast sie einfach genommen? « Hannah schwieg. »Ja, wenn Dimity all das geheim halten wollte, hattest du sie wohl in der Hand und konntest dir nehmen, was du wolltest, nicht? Wie konntest du das tun?«
»So war es nicht! Ich … Das war mein gutes Recht. Außer dem hat sie auch dringend Geld gebraucht, und ohne meine Hilfe hätte sie sie nie verkaufen können.«
»In ihrem Namen Geschäfte mit dem Auktionshaus zu machen gibt dir wohl kaum das Recht …«
»Das meine ich nicht. Ich spreche davon, die Bilder über
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