Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
oben?«
»Ich bin nicht …« Dimitys Herz geriet ins Stolpern. Sie hatte gerade sagen wollen, dass sie nicht allein war – beinahe hätte sie sich verraten. Sie musste lernen, schneller zu denken und weniger zu sagen. »Ich bin nicht einsam«, brachte sie schließlich hervor, und ihre Stimme zitterte. Delphine warf ihr einen Blick zu und runzelte ungläubig die Stirn.
»Wenn der Krieg vorbei ist, wird alles anders«, sagte sie. »Wenn der Krieg vorbei ist, kannst du gehen, wohin du willst, und tun, was immer du willst.« Sie sprach voller Überzeugung, und Dimity schwieg und fragte sich, wie es möglich war, dass ein so kluges Mädchen immer noch so denken konnte.
Sie hatten einen breiten Sandstreifen erreicht, den die Ebbe makellos glatt und ebenmäßig hinterlassen hatte. Del phine blieb stehen und starrte die Stelle beängstigend gierig an.
»Da – ich kann sie förmlich vor mir sehen, du nicht?«, flüsterte sie.
»Wo? Wen sehen?«
»Élodie. Wäre das nicht etwas für sie gewesen? Sie hätte unbedingt ihren Namen in den Sand schreiben wollen oder etwas darin zeichnen.«
»Sie hätte Räder geschlagen«, stimmte Dimity zu, und Delphine lächelte.
»O ja. Sie hätte gejammert, dass wir zu langsam gehen und dass sie Hunger hat.«
»Sie hätte mir gesagt, was ich für ein unwissender Dumm kopf bin.«
»Aber sie hätte dir trotzdem zugehört. Deinen Geschich ten und allem, was du über das Leben hier weißt. Sie hat dir immer zugehört, wusstest du das nicht? Sie war nur eifersüchtig auf dich – weil du so erwachsen warst und so frei. Und weil Mummy und Daddy dich so gern hatten.«
»Ich war nie frei. Und Élodie hat mich nie gemocht«, widersprach Dimity.
»Aber sie war noch zu klein, um zu verstehen, warum. Das war weder deine Schuld noch ihre.« Delphine starrte auf den gelbbraunen Sand hinab. »Ach, Élodie!«, hauchte sie. Ihre Augen glänzten vor Tränen. »Wenn ich an all das denke, was sie nie tun und nie sehen wird … Das kann ich kaum ertragen. Es schnürt mir die Luft ab.« Sie presste die Fäuste an die Rippen. »Kennst du dieses Gefühl? Als könntest du aufhören zu atmen und einfach sterben?«
»Ja.«
»Manchmal träume ich von ihr. In einem Traum war Weihnachten, und sie war erwachsen. Ich träume davon, wie schön sie gewesen wäre, wie klug und scharfsinnig. Sie hätte Herzen gebrochen, unsere Élodie. Aber meistens träume ich, dass sie mich an Weihnachten besucht und wir unter einem riesigen Baum voller Lichter stehen. Sie strahlt, als hätte sie selbst Lichter in den Augen und im Haar. Sie trägt ein silbernes Kleid, und ihr Haar glänzt wie schwarzer Bern stein. Wir trinken ein Glas Champagner und lachen, vertrauen uns gegenseitig unsere Geheimnisse an, und sie er zählt mir von ihrem neuesten Verehrer. Und ich …« Delphine verstummte, als ein lautloses Schluchzen ihr die Stimme raubte. »Und ich wache so glücklich aus diesen Träumen auf, Mitzy. So glücklich.« Delphine barg das Gesicht in den Händen und weinte. Dimity stand neben ihr, konnte nicht atmen und glaubte, sterben zu müssen.
Lange schwiegen sie. Sie standen nur da, während die Wellen sich leise und ungestört am Ufer brachen. Schließlich hörte Delphine auf zu weinen und wandte das nasse Gesicht dem Horizont zu. Sie wirkte so ruhig wie das Wasser, reglos und unberührbar.
»Hast du jemals etwas von Celeste gehört?«, fragte Dimity, obwohl sie nicht sicher war, ob sie die Antwort hören wollte. Delphine blinzelte und nickte.
»Sie hat mir geschrieben, nachdem ich grandmère ein Telegramm geschickt hatte. Einen schrecklichen Brief hat sie mir geschrieben. Ich habe ihn stets bei mir und lese ihn immer wieder in der Hoffnung, dass doch etwas anderes darin stehen wird. Das ist natürlich albern.«
»Was steht denn darin?«
»Sie schreibt, dass sie mich liebt, aber Élodie zu sehr vermisst, als dass sie mich sehen wolle. Damit sagt sie im Grunde, dass sie mir die Schuld gibt. Sie will mich nicht sehen, weil sie mir die Schuld an allem gibt. Und natürlich hat sie recht. Ich bin schuld – ich habe meine Schwester getötet, und meine Mutter hätte ich auch beinahe umgebracht.« Sie schüttelte heftig den Kopf. »Ich war mir so sicher! Ich war so sicher, dass ich die richtigen Pflanzen gepflückt hatte! Wie konnte mir so ein Fehler passieren? Wie?« Sie sah Dimity an, ratlos und verzweifelt. Dimity starrte sie mit offenem Mund an. Die Wahrheit lag ihr auf der Zunge und wartete. Wollte ausgesprochen werden.
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