Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
Qual. Delphine.
Eines Tages war sie hierhergekommen. Aus dem Nichts, an einem stillen, gelben Herbstmorgen, der nach Tau und totem Laub roch. Der Krieg dauerte immer noch an, unbeachtet in ihrem Haus. Charles war seit über einem Jahr bei ihr, und sie hatten sich an ihr seltsames neues Leben gewöhnt, einen gemeinsamen Rhythmus gefunden, angenehme Gewohnheiten. Und Dimity war glücklich, denn sie hatte alles, was sie je gewollt hatte. Einen Menschen, den sie liebte, von dem sie geliebt und gebraucht wurde.
»Hallo, Mitzy«, sagte Delphine mit einem schüchternen Lächeln. Augenblicklich tat sich vor Dimitys Füßen der Boden auf, ein Abgrund, so steil wie die Klippe, der nur darauf wartete, dass sie schwankte und fiel. Delphine sah älter aus. Ihr Gesicht war länger und schmaler. Ihr Kiefer hatte einen eleganten Schwung, das Haar war seitlich gescheitelt und in sanften Wellen, weich und glänzend, nach hinten gekämmt. Ihre braunen Augen waren dunkler als früher, so tiefbraun wie die Erde, und sie wirkten viel älter als der Rest von ihr. »Wie geht es dir?«, fragte sie, doch Dimity konnte ihr nicht antworten. Ihr Herz schlug zu laut, ihre Gedanken schrien durcheinander, und sie fand keine Worte. Delphines Lächeln erlosch, und sie spielte an der Schließe ihrer Handtasche herum. »Ich hatte nur gehofft, mal wieder ein freundliches Gesicht zu sehen. Ein vertrautes Gesicht, weißt du? Und ich wollte mich vergewissern, dass du von – Vaters Tod erfahren hast. Vergangenes Jahr. Sie haben mir ein Telegramm in die Schule geschickt. Wusstest du, dass er gefallen ist?«, stieß sie hastig hervor. Delphine traten Tränen in die Augen, als Dimity nickte. »Ich … Ich dachte nur, ich frage mal nach. Ich fand, du solltest das wissen. Weil … Na ja, du hast ihn auch geliebt, nicht wahr? Damals fand ich das nicht schön, als Mummy es mir erklärt hat. Aber warum hättest du ihn nicht auch lieben sollen, nur weil wir ihn so sehr liebten?«
»Ja, ich habe ihn geliebt«, sagte Dimity mit einem winzigen Nicken.
Sie standen einander eine Weile an der Schwelle gegenüber, und Delphine schien nicht recht zu wissen, was sie als Nächstes tun oder sagen sollte.
»Also, darf ich vielleicht hereinkommen? Ich möchte gern mit dir über …«
»Nein!« Dimitys energisches Kopfschütteln war nicht nur eine Ablehnung. Es war zugleich ein Verleugnen, eine Reaktion auf die leise Stimme in ihrem Hinterkopf, die ihr sagte: Delphine abzuweisen würde zu den schlimmsten unter all den bösen Dingen gehören, die sie getan hatte. Sie schloss die Stimme weg und hielt stand.
»Oh«, sagte Delphine erschrocken. »Oh, schon gut. Natürlich … Würdest du dann ein Stück mit mir gehen? Vielleicht runter zum Strand? Ich will noch nicht wieder gehen. Ich weiß nicht – weiß nicht, wohin.« Dimity starrte sie einen Moment lang an und spürte, wie die sorgsam gehütete Leere sie im Stich ließ und der tiefe Fall begann. Aber Del phines Blick war so demütig und flehentlich, dass Dimity ihre Bitte schließlich doch nicht ausschlagen konnte.
»Also gut. Gehen wir zum Strand«, sagte sie.
»Genau wie früher«, bemerkte Delphine. Aber es war über haupt nicht wie früher, und keine von beiden lächelte.
Sie gingen den Abhang hinunter, über die Weiden der Southern Farm, und von dort aus zum Meer. In der Herbstsonne spazierten sie in Richtung Westen zwischen den Felsen hindurch zum Kieselstrand. Das Meer war ganz flach an jenem Tag, silbrig und hübsch, als sei die Welt ein ruhiger, sicherer Ort. Die beiden jungen Frauen, die an seinem Ufer spazieren gingen, wussten es besser.
»Wie geht es deiner Mutter?«, fragte Delphine. »Ich denke oft an früher zurück, weißt du? An die Zeit, die wir alle hier verbracht haben. Und jetzt, im Nachhinein, ist mir klar, wie schwer es für dich gewesen sein muss, dass wir einfach so gekommen und wieder gegangen sind. Und ich kann mir jetzt ungefähr vorstellen, wie schwer du es mit deiner Mutter gehabt haben musst. All die Beulen und blauen Flecken, die du immer hattest … Ich war ja so blind damals. Das tut mir leid, Mitzy.«
»Sie ist tot«, sagte Dimity hastig. Es war ihr unerträglich, zu hören, wie Delphine sich entschuldigte.
»Oh, das tut mir sehr leid.«
»Braucht es nicht. Ich vermisse sie nicht. Vielleicht sollte ich das nicht sagen, aber es ist die Wahrheit.« Delphine nickte leicht und stellte keine weiteren Fragen über Valentina.
»Aber bist du nicht ein bisschen einsam, so ganz allein da
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