Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
vielleicht hast du recht. Es nützt ja nichts, diese Zeiten sind vorbei. Aber einen Spaziergang mache ich doch. Um sie alle wiederzusehen, ein letztes Mal.« Sie nahm Dimitys Hand und drückte sie, dann zog sie Dimity fest an sich. »Ich wünsche dir ein glückliches Leben, Mitzy Hatcher. Du hast ein wenig Glück verdient.« Delphine ging davon, ehe Dimity ihr antworten konnte, und darüber war sie froh.
Sie ging ruhigen Schrittes zurück zu ihrem Haus und passte gut auf, dass sie nicht stolperte, dass sie sich nicht erschrak und auseinanderflog wie eine Schar Spatzen. Sie ging hinauf in Charles’ Zimmer, wo er gerade das Gesicht eines jungen Mannes zeichnete, zog die Vorhänge zu und schaltete ihm das Licht an. Er schien es nicht zu bemerken. Er wusste nicht, dass seine Tochter vor der Tür gestanden hatte, dass die Wärme ihrer Umarmung noch in Dimitys Kleidern hing. Wieder stand Dimity nur da, und die Wahr heit war so schwer, dass sie ihr jeden Moment aus dem Mund fallen würde. Seine Tochter. Seine Tochter. Eine junge Frau, die ihren Vater mehr brauchte als alles andere. Aber ihr Vater ist tot, versicherte Dimity sich.
»Niemand darf wissen, dass du hier bist«, sagte sie, und Charles riss den Kopf hoch und blickte ängstlich von seiner Zeichnung auf.
»Nein. Niemand darf wissen, dass ich hier bin«, flüsterte er mit Augen so groß wie die eines Kindes, das schlecht geträumt hat.
»Niemand wird es erfahren, Charles. Ich verstecke dich gut, mein Liebster.« Da lächelte er, so dankbar, so er leichtert. Dimity trat einen Schritt vom Rand des Abgrunds zu rück und spürte, wie sein Lächeln sie wärmte und besänf tigte. Als sie nach unten ging, atmete sie schon leichter.
Den restlichen Tag lang hielt sie an den Fenstern Ausschau nach Delphine. Sie suchte die Klippen und den sichtbaren Teil des Strandes ab und entspannte sich gerade wieder ein wenig im Glauben, Delphine sei fort, als sie sie entdeckte, spät am Nachmittag. Delphine ging über die Weide auf den Hof der Southern Farm und klopfte an die Tür. Aus der Ferne wirkte sie sogar noch weniger mädchenhaft – sie sah aus wie eine Frau, elegant, groß und gertenschlank. Dimity sah Mrs. Brock aus der Tür kommen und Delphine umarmen. Die Umarmung dauerte lange, und dann zog sie Delphine ins Haus. Und Dimity erinnerte sich daran, wie Christopher Brock Del phine immer angesehen hatte, wie er gelächelt und ver legen den Blick gesenkt hatte, und sie erkannte voll grauen hafter Gewissheit, dass Delphine nie wieder weggehen würde. Die Falle war zugeschnappt, und Delphine würde immer da sein, wie eine Wunde, die nie verheilte, und Dimity stets daran erinnern, was sie getan hatte und was sie hätte tun sollen. Die Gefahr, dass Charles entdeckt werden könnte, war damit umso bedrohlicher, umso wirklicher. Falls Delphine ihn finden sollte, würde sie ihn für sich beanspruchen. Aber sie würde ihn niemals finden, beschloss Dimity auf der Stelle. Delphine würde nie einen Fuß in dieses Haus setzen und Charles keinen Fuß nach draußen. Sie blieb lange stehen und starrte auf den Hof hinab, obwohl sie wusste, dass sie nicht sehen würde, wie Delphine wieder ging. Es war schon dunkel, als sie endlich wieder zu sich kam und bemerkte, dass sie draußen vor dem Fenster gar nichts mehr sehen konnte. Sie schüttelte sich, holte tief Luft und versuchte sich zu er innern, warum sie früher an diesem Tag so traurig gewesen war, was ihr solche Angst eingejagt hatte. Dann schob sie es mit einem Schulterzucken beiseite, denn es konnte nicht weiter wichtig gewesen sein. Nichts war wichtig, außer Charles. Sie machte sich daran, das Abendessen zuzubereiten, und summte dabei ein altes Liedchen vor sich hin.
Zach starrte Hannah völlig fassungslos an. Sie wartete geduldig darauf, dass er etwas sagte.
»Ich habe dir ja gesagt, dass ich immer das Gefühl hatte, dich zu kennen. Schon vom ersten Augenblick an.«
»Ja, hast du. Ich habe das für eine Masche gehalten.«
»Nein, das war keine Masche. Ich habe dich tatsächlich wiedererkannt – du siehst aus wie Delphine. Aber das ist mir nur aus bestimmten Blickwinkeln aufgefallen, weil ich Delphine ja auch nur aus bestimmten Perspektiven kenne. Zum Beispiel dieses Porträt von ihr, das mir gehört, das ich so liebe … Ich habe es so lange studiert, es mir immer wieder angeschaut.« Er schüttelte ungläubig den Kopf. »Delphine war deine Großmutter?«
»So ist es. Sie kam während des Krieges zurück nach Blacknowle, als sie
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