Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
Laufe der vielen Jahre waren seine Wangen eingesunken, doch wenn sie ihn betrachtete, sah sie nur eines, das, was sie schon immer gesehen hatte – ihren Charles, ihren Liebsten. Lange lag sie halb bei ihm auf dem Bett, die Wange an seine stille, reglose Brust geschmiegt.
Neue Gesichter, neue Stimmen kamen, um die graue Leere zu füllen, die Charles hinterlassen hatte. Anfangs waren sie undeutlich und hielten Abstand. Sie waren Andeutungen von Bewegung, Stimmen so leise, dass man sie nicht recht hören konnte. Doch dann, fast eine Woche nachdem Charles gegangen war, erhaschte sie einen flüchtigen Blick auf blondes Haar, als sie an dem Spiegel im Flur vorbeiging. Gefärbtes, gelbliches Haar, lang und strohig mit gespaltenen Spitzen. Valentina. Und am selben Abend wurde sie von einem Zittern gepackt, einem anfallartigen Beben der Arme und Schultern, das nicht ihr eigenes war, sondern Celestes. Die Toten wurden von ihresgleichen angezogen, das wusste sie, wie Wespen von einem ermordeten Kameraden. Im ganzen Haus lag der Tod in der Luft, sein Geruch verbreitete sich, wurde immer stärker und verlockte andere, herzukommen und nachzusehen. Sie rannte voll Entsetzen hinauf in sein Zimmer und hielt seine kalten Hände, um sich zu trösten. Sie waren jetzt wieder weich, aber auf eine ungute Art. Sein ganzer Körper schien einzusinken, als sackte er tiefer in die Matratze ein. Seine Augen waren in den Kopf zurückgerollt, die hohlen Wangen noch tiefer und die Sehnen an seinem Hals noch loser. Die Zunge, die zwischen seinen Zähnen ruhte, war dunkel geworden, fast schwarz. Seine Haut war wächsern und gelb. »Weißdorn«, murmelte sie ihm mit gequälter Stimme zu, als der Tag alt wurde und die Sonne unterging. »Du riechst nach Maiblüten, mein Liebster.«
Delphine öffnete die Tür des Bauernhauses. Das nahm Dimity einen Moment lang hin, dann erschrak sie, weil es nicht sein konnte. Sie hatte gesehen, wie Delphine hinausgetragen worden war, schon vor Jahren. Das war nicht Delphine, sondern das dunkelhaarige Mädchen, das manchmal an Dimitys Tür geklopft hatte, als es noch klein gewesen war, um Spenden für ein Kinderhilfswerk zu sammeln oder Lose für die Pfadfinderinnen zu verkaufen. Ein kleines, knochiges Ding mit aufgeschrammten Ellbogen und Knien war sie gewesen, doch jetzt stand sie vor ihr, ernst und bezaubernd. Ihr Atem roch nach Alkohol, ihr Blick war wirr und verwundert. Doch Dimity nahm sie bei der Hand und zog sie mit hinauf zu The Watch. Sie konnte ihn nicht allein hochheben. Die Stimmen der Toten hallten durchs Haus, aber Hannah schien sie nicht zu hören. Sie trieben Dimity zu furchtsamer, verzweifelter Hektik an. Sie mussten weg, sie mussten alle wieder gehen und ihre Geheim nisse mitnehmen. Diese Geheimnisse mussten gewahrt blei ben, zu viele waren es, und zu schrecklich, als dass auch nur eines davon ausgesprochen werden könnte – das wäre der Kiesel, der die Gerölllawine auslöst. Keine Polizei, kein Bestatter, niemand sonst außer den beiden Frauen und dem toten Mann. Hannah schlug die Hand vor den Mund, als sie Charles’ Zimmer betraten, und würgte. Ihre Augen glitzerten finster vor Entsetzen.
Gemeinsam hoben sie ihn vom Bett. Er war schwerer, als er aussah, ein großer Mann mit guten, starken Knochen. Sie trugen ihn aus dem Haus und zu den Klippen hinunter. Nicht in Richtung Strand, sondern hinter den Garten, wo das Land senkrecht zu der kleinen Schlucht abfiel. Die Flut hatte sie mit Wasser gefüllt, wusste Dimity. Sie kannte all das so gut, dass sie keinen Moment lang darüber nachdenken musste, auch die Strömungen, den Sog, der ihn in die Tiefe und weit aufs Meer hinaus ziehen würde. Der Wind kam in peitschenden Böen, sodass sich weiße Wellenkämme gegen die Felsen warfen. Er trug den Geruch von Weißdornblüten mit sich fort, und Dimitys Schluchzen. Sie schwangen ihn hin und her, einmal, zweimal. Beim dritten Mal ließen sie ihn los. Und einen Augenblick lang, nur eine Sekunde, wäre Dimity ihm beinahe dort hinunter gefolgt. Sie wollte ihn festhalten, mit ihm gehen, denn es erschien ihr sinnlos, ohne ihn zurückzubleiben. Doch ihr Körper hatte andere Vorstellungen, irgendein Instinkt wollte leben, also ließen ihre Hände ihn los, und er flog in die Dunkelheit. Er wurde vom anschwellenden Wasser verschluckt und war verschwunden. Sie blieb danach noch lange auf der Klippe stehen. Das Mädchen wich nicht von ihrer Seite, die junge Frau mit dem süßen, nach Whisky duftenden Atem, dem
Weitere Kostenlose Bücher