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Das verborgene Lied: Roman (German Edition)

Das verborgene Lied: Roman (German Edition)

Titel: Das verborgene Lied: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Webb
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du mir noch gar nicht erzählt. Hat Charles Aubrey ein echtes Grab, das ich besuchen könnte?«, fragte Zach. Auf ein mal stand ihm ein düsteres Bild von einer Exhumierung vor Augen, damit der Leichnam in geweihten Boden umgebettet werden konnte. Er sah krümelige Erde zwischen grinsenden Zähnen und Insekten in knöchernen Augenhöhlen. Hannah hatte an den dünnen Borsten eines Pinsels herumgespielt, der in einem Glas auf dem Tisch stand. Schuldbewusst ließ sie die Hand sinken, als hätte er ihr auf die Finger geklopft.
    »Nein. Es gibt kein Grab.«
    »Aber … Sag bloß nicht, dass ihr ihn verbrannt habt? Herr im Himmel, Hannah …«
    »Nein! Das nicht. Aber du musst das verstehen … Dimity war beinahe hysterisch vor Trauer und Angst, als ich hier ankam. Sie war felsenfest davon überzeugt, dass sie entsetzliche Schwierigkeiten bekommen würde, falls irgend jemand herausfände, dass Aubrey die ganze Zeit über hier gewesen war. Sie hat immerzu von Geheimnissen und schlim men Dingen geredet, sie war kaum noch zu verstehen. Das war nicht lange nachdem ich Toby verloren hatte. Ich war damals selbst noch nicht wieder ganz klar im Kopf. Und Aubrey war schon eine ganze Weile tot, verstehst du? Ich glaube … Ich glaube, sie hatte es nicht wahrhaben wollen. Vielleicht wollte sie auch nur so lange wie möglich mit ihm zusammenbleiben. Aber er – er fing an zu riechen.« Sie unterbrach sich und schluckte bei der Erinnerung daran. »Es war mitten in der Nacht, und da lag eine Leiche – meine zweite Leiche in dem Jahr –, und Mitzy hat ge schluchzt und gezittert und in einem fort gebrabbelt, also habe ich mich schließlich auf ihren Vorschlag eingelassen.« Sie blickte zu ihm auf, immer noch mit diesen großen Augen, die jetzt nur auf seine Reaktion zu warten schienen. An jedem anderen Tag vor diesem wäre er glücklich darüber gewesen, einmal diese Verletzlichkeit in ihrem Gesicht zu sehen.
    »Nämlich?«
    »Wir haben ihn dem Meer übergeben.«
    Die Nacht, in der er starb, war windig und trocken, die Brise ein rastloses Flüstern, beinahe ein Lied. Dimity tat der Rücken weh, nachdem sie den Küchenfußboden geschrubbt hatte. Jahrelang hatte sie sich und Charles als Putzfrau durch gebracht und war mit dem Bus nach außerhalb zu Leuten gefahren, die neu in der Gegend waren und sich nach dem Krieg hier angesiedelt hatten. Leute, die mit dem Namen Hatcher rein gar nichts verbanden. Und sobald sie pensionsberechtigt war, ging sie in Rente, hörte auf zu arbeiten und verbrachte den ganzen Tag, jeden Tag, zu Hause mit Charles. The Watch fühlte sich nicht mehr wie ein Gefäng nis an, sondern wie ein Zuhause. Eine Zuflucht. Ein Ort, an dem sie glücklich war, mit erfülltem Herzen. Doch an diesem Abend taten ihr die Knochen weh bis aufs Mark, und nach einer Weile sträubten sich die Härchen in ihrem Nacken, und eine grässliche Übelkeit sammelte sich unter ihren Rippen. Sie summte und sang und tat ihre Arbeit und bereitete Lammkoteletts mit Minzsauce zu, doch sie zögerte es so lange wie möglich hinaus, ihm das Abendessen hinaufzubringen. Sie wusste es – sie wusste es. Aber sie wollte es nicht sehen, keinen Beweis dafür haben. Jede Treppenstufe war eine Klippe, jeder Schritt ein Marathon. Sie zwang sich, hinauf in sein Zimmer zu gehen, als die Koteletts längst kalt geworden waren und das Fett darum herum zu einem Ring auf dem Teller erstarrt war.
    Im Zimmer war es dunkel, und sie stellte das Tablett vorsichtig auf den Tisch, ehe sie zum Lichtschalter ging. Die Hand, die sie danach ausstreckte, war bleischwer, sie wog mehr als alle Felsen am Strand zusammen. Und da war er. Er lag vollständig angezogen im Bett, die Beine unter der Decke, die Arme ordentlich auf dem Bauch überkreuzt. Sein Kopf ruhte mitten auf dem Kissen, und seine Augen waren geschlossen. Der Mund stand leicht offen, gerade so weit, dass sie die untere Zahnreihe sehen konnte und seine geschwollene Zunge. Die Zunge war nicht mehr rosa, sondern gräulich bleich. Und da, genau in dieser Sekunde, hielt die Welt inne, und alles verschwamm zu Schatten. Nichts war mehr wirklich oder greifbar. Die Luft taugte nicht zum Atmen, das Licht verbrannte ihr die Augen, und die Decke drückte sie nieder, bis ihre Knie nachgaben. Sie schlurfte zum Bett und stöhnte vor Schmerz. Seine Haut war kalt und trocken, das Fleisch darunter zu hart, unmenschlich. Sie berührte die feinen Strähnen seines weißen Haars mit zitternden Fingern, und sie waren weich und sauber. Im

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