Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
ihm genagt, ein steter Schmerz, der nun endlich abgeklungen war, so problematisch ihre Lage auch sein mochte.
»Bitte. Das war das Mindeste, was ich … Ich bin froh, dass sie in Sicherheit sind.« Zach streckte die Hand aus, und Ilir drückte sie und zog Zach dann in eine kurze, raue Umarmung. Keiner von ihnen hatte Zeit gehabt, sich zu waschen oder umzuziehen, und der Mann stank nach dem Stress und den Anstrengungen der vergangenen Nacht.
»Ilir, komm schon. Wir haben keine Zeit mehr«, rief Hannah von ihrem Auto aus.
»Sei gut zu ihr«, sagte Ilir leise. »Jetzt, ohne mich … Sie erscheint sehr stark, aber sie braucht auch Menschen. Mehr, als sie zugeben will. Wenn ich jetzt weg bin, wird sie deine Freundschaft brauchen. Sie ist manchmal schwierig, aber eine gute Frau.«
»Ich weiß«, sagte Zach. »Viel Glück.« Ilir klopfte ihm auf die Schulter, nickte ihm zu, wandte sich dann ab und stieg auf den Beifahrersitz. Der Jeep hustete blauen Dieselqualm aus, und weg waren sie.
Zach verweilte noch ein bisschen vor dem Haus und ließ den Blick über die Aussicht schweifen, vom wässrigen Horizont bis zu der grünen Hügelkette landeinwärts. Ein Teil von ihm konnte es kaum erwarten, wieder nach oben zu gehen und sich alle Bilder noch einmal anzusehen, die ersten Notizen über Motiv und Farbgebung anzulegen. Doch er zögerte und stellte verblüfft fest, dass es sich nicht richtig anfühlte, das jetzt zu tun, während Hannah weg und Dimity noch immer völlig außer sich war. So scharfsinnig und mühsam er diese Bilder auch aufgespürt haben mochte – sie gehörten ihm nicht. Und noch etwas beschäftigte ihn, ein Gedanke, auf den ihn Hannahs Enthüllung über ihre Großmutter gebracht hatte. Er wartete noch ein Weilchen, biss sich nachdenklich auf die Unterlippe und versuchte sich ein zureden, dass es keine Rolle spielte. Aber alles Leugnen nützte nichts. Er ging leise die Treppe hinauf.
»Dimity?«, rief er. Zuletzt hatte er sie spät in der Nacht auf dem Boden neben der Tür zu dem kleinen Zimmer hocken sehen, in dem Charles Aubrey gelebt hatte. Da war sie nicht mehr. Zach klopfte sanft an die Tür zu dem anderen Schafzimmer und spähte durch den Türspalt. »Sind Sie wach?«, fragte er leise. Von der kleinen Gestalt, die zusammengerollt auf dem Bett lag, kam keine Antwort. Sie hatte die Knie vor den Körper gezogen, und die Hände in ihren schmuddeligen roten Handschuhen lagen auf ihrem Bauch. Als Zach diese Handschuhe sah, stieg plötzlich eine Zuneigung für die alte Frau in ihm auf, und Bewunderung. Nur wenige Menschen hätten ein Geheimnis mit derart unerschütterlicher Treue hüten können, und das erfolgreich, so viele Jahre lang. Er dachte an seine langen Unterhaltungen mit Dimity zurück, in deren Verlauf er fleißig ihre Geschichten über Charles Aubrey in den 1930er-Jahren aufgezeichnet hatte. Die ganze Zeit über hatte sie diese ge waltige, unvorstellbare Wahrheit verheimlicht. Er hatte stets den Eindruck gehabt, dass sie irgendetwas zurückhielt und sich ein wenig davor fürchtete, etwas auszuplaudern oder zu viele Hinweise zu geben. Das musste ihr sehr zu schaffen gemacht haben. Dimity antwortete nicht, als er sie noch einmal ansprach, und sie atmete tief und gleichmäßig, doch als Zach sich zurückzog, hatte er das eindeutige Gefühl, dass sie nicht schlief.
Zach wich Pete Murrays Fragen aus, so gut es ging, obwohl der Wirt ganz scharf darauf war, über die Polizeiaktion zu tratschen, die in der Nacht zuvor im Dorf stattgefunden hatte. Zach zuckte mit den Schultern und behauptete, nichts zu wissen. Er hatte es eilig, sich in Bewegung zu setzen und den einzigen Menschen zu besuchen, der etwas aufklären konnte, das immer lauter nach seiner Aufmerksamkeit ver langte. Während der zweistündigen Fahrt gen Norden zwang er sich mühsam, sich auf den Verkehr zu konzentrieren. In Gedanken probte er die passenden Worte, um endlich, ein für alle Mal, eine Wahrheit herauszufinden, die sein Leben lang absichtlich verschleiert worden war.
Seine Großmutter lebte in einer Kleinstadt in der Nähe von Oxford in einem winzigen viktorianischen Häuschen, das zu einer Seniorenwohnanlage gehörte. Hübsche kleine Reihenhäuschen aus Backstein umgaben U-förmig einen makellos gepflegten Rasen, von einem Zaun gegen ungeladene Gäste geschützt. In den Rabatten zeigten die letzten Rosen ihre verblassten Blüten. Zach nannte dem Wachmann seinen Namen und ging zu einem Häuschen in der Mitte einer Reihe. Er klopfte
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