Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
Gesichtern, und er studierte sie alle im schwachen Licht der einsamen Glühbirne an der Decke. Er betrachtete Aubreys sämtliches Hab und Gut, die auf dem Tisch verstreuten Dinge, berührte jeden einzelnen Gegenstand vor sichtig, ehrfürchtig. Tuben mit Ölfarbe und ein Kanister Terpentin – der chemische Geruch, den er vorhin sofort erkannt hatte, als er und Rozafa im Dunkeln gesessen hatten. Unter ein paar losen Blättern fand er etwas Verblüffendes: Erkennungsmarken des Militärs, noch immer auf einen steifen, verdrehten Lederschnürsenkel gefädelt. Britisch, nicht aus Metall wie die amerikanischen. Auf eine rote, kreisrunde Scheibe und ein grünes Achteck aus irgendeinem harten, faserigen Material waren deutlich der Name F. R. Dennis und die Details seiner Einheit geprägt. Zach strich mit den Fingerspitzen über die Buchstaben. Dennis. Habe ich dich endlich gefunden. Jetzt bekommst du auch eine Geschichte. Es musste irgendwo ein Foto von ihm geben, in irgendeinem alten Familienalbum. Zach würde das Gesicht sehen können, das Aubrey sich mit solcher Mühe vorzustellen versucht hatte.
»Dimity hat mir einmal gesagt, dass er sich nie verziehen hat«, bemerkte Hannah. Zach hatte sie nicht einmal hereinkommen hören.
»Was denn?«
»Dass er die Identität dieses Soldaten gestohlen hat. Er hat ihn dazu benutzt, nach Hause zu kommen, von der Front zu entkommen und davonzulaufen. Er hat den guten Namen dieses Mannes ruiniert, indem er desertiert ist, und seine Familie um einen Leichnam, ein Begräbnis betro gen. Ständig hatte er Albträume davon. Vom Krieg und von Dennis.«
»Warum zeigen dann alle Dennis-Bilder verschiedene Männer?«
»Tun sie nicht. Das sind alles Bilder von dem einen Dennis. Er wusste ja nicht, wie er wirklich aussah, verstehst du? Dennis war schon tot, als Aubrey ihn gefunden und ihre Kennmarken vertauscht hat. Tot und so schwer verstümmelt, dass er nicht wissen konnte, wie der Bursche im Leben wirklich ausgesehen hatte. Das hier war sein Bemühen, seine Schuld zu tilgen, glaube ich. Er wollte dem Mann wieder ein Gesicht geben.«
»Die Bilder von Dennis, die in letzter Zeit verkauft wurden … Sie waren sich so ähnlich, aber ich wusste, dass an jedem irgendetwas anders ist.«
»Ja.« Hannah nickte. »Du bist offenbar der Einzige, der gründlich genug hingeschaut hat. Ich habe die Zeichnungen herausgesucht, die einander am ähnlichsten waren. Bei denen hatte Charles offensichtlich ein Bild vor Augen, das er mehrmals gezeichnet hat, ehe es sich wieder veränderte. Aber er hat nie zweimal haargenau denselben Menschen skizziert, weil …«
»Weil er nur aus seiner Einbildung heraus gezeichnet hat. Er hatte kein Modell.«
»Ja. Es war riskant, sie zu verkaufen, aber alle anderen hätten noch mehr Fragen aufgeworfen.«
»Warum dann das Risiko eingehen?«
»Wir brauchten das Geld. Dimity zum Leben und ich, um Ilir und seiner Familie zu helfen.« Zach dachte einen Moment lang darüber nach.
»Dieses neueste Bild von Dennis, das vorletzte Woche verkauft wurde – damit habt ihr Rozafa und dem Jungen die Reise hierher bezahlt, nicht?«, fragte er, obwohl er die Antwort schon kannte, bevor Hannah nickte.
»Ilir arbeitet seit Jahren für mich, und er hat fast alles gespart, was ich ihm bezahlen konnte. Er hat ihnen noch einiges davon geschickt, als sie in Frankreich waren. Aber die französischen Behörden haben Anfang des Monats damit begonnen, die illegalen Lager bei Paris aufzulösen, und das war zu früh. Wir hatten beide noch nicht genug zusammen. Wir haben schnell mehr Geld gebraucht.« Ihre Augen waren groß und ruhig, blickten aber auch forschend. Sie wollte sehen, was er bei alledem empfand, und versuchen, ihm die Geheimnisse und Lügen zu erklären. Ihren Anteil daran. »Ich habe dich nie direkt belogen, Zach«, sagte sie, als hätte sie seine Gedanken gelesen.
»Du hast seine Bilder selbst datiert, Hannah. Das ist Fälscherei. Du hast behauptet, nichts von Dennis zu wissen oder von den neuen Bildern, die auf einmal verkauft wurden. Du hast mich und die ganze verdammte Welt belogen«, sagte er und erkannte erst jetzt, wie sehr ihn das verletzte.
»Das war keine Fälscherei! Die Bilder sind von Charles Aubrey.«
»Ja. Die Lüge, die du dem Rest der Welt erzählt hast, war nicht ganz so groß wie die, die du mir aufgetischt hast«, erwiderte er. Hannah presste unglücklich die Lippen zusammen, entschuldigte sich jedoch nicht.
»Was habt ihr mit seinem Leichnam gemacht? Das hast
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