Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
und öffnete gleich darauf die Tür, damit seine Großmutter nicht aufstehen musste, um ihn einzulassen.
»Hallo, Granny«, sagte er, und sie starrte ihn mit einem leichten Stirnrunzeln an. Erst als er sich vorbeugte, um sie auf die Wange zu küssen, lächelte sie.
»Mein lieber Junge«, sagte sie und räusperte sich. »Wie lieb von dir, dass du mich besuchst. Welcher bist du?«
»Ich bin Zach, Granny. Dein Enkel. Davids Sohn.« Als sie den Namen seines Vaters hörte, lächelte seine Großmutter herzlicher.
»Aber natürlich. Du siehst ihm so ähnlich. Setz dich, setz dich. Ich mache uns einen Tee.« Sie versuchte mühsam auf zustehen, und ihre dünnen Arme wackelten, als sie zwei Geh stöcke zu Hilfe nahm.
»Ich mache das schon, Granny. Bleib ruhig sitzen.«
Von der kleinen Küchenzeile aus musterte er sie. Er hatte sie vor vier Monaten zuletzt gesehen, und sie schien von Mal zu Mal weniger zu werden. Sie war nur noch ein Hauch ihrer selbst, das Haar wie die Gespenster der Locken, die sie früher gehabt hatte, und von ihrer eleganten, lebhaften Gestalt waren nur noch die nackten Knochen mit pergamente ner Haut darüber geblieben. Hier saß sie und wurde von Tag zu Tag schwächer, und er war zu sehr mit seinen eigenen Sorgen beschäftigt gewesen, um es zu bemerken. Er spürte Gewissensbisse, als ihm auffiel, dass er sie zu sammen mit Elise hätte besuchen sollen, ehe sie nach Amerika abgereist war. Er schwor sich, das auf jeden Fall nachzuholen, sobald seine Tochter wieder hier war. Er konnte nur hoffen, dass seine Großmutter dann noch am Leben sein würde, doch die Chancen schienen ganz gut zu stehen. Sie war gebrechlich, aber ihre Augen blitzten lebhaft. Zach brachte den Tee zum Tisch, und sie unterhielten sich gut zehn Minuten lang über die Verwandtschaft und seine Arbeit.
»Na los, frag schon«, sagte sie, nachdem ein kurzes Schwei gen entstanden war. Zach hob den Kopf und sah sie an.
»Was soll ich dich fragen?« Sie fixierte ihn mit diesen strahlenden Augen und wirkte ein wenig belustigt.
»Was auch immer du unbedingt fragen willst. Ich sehe es dir an, es hängt wie eine Wolke über deinem Kopf.« Sie lächelte, als er ein schuldbewusstes Gesicht machte. »Keine Sorge, mein Lieber. Es ist mir gleich, warum du mich besuchen kommst. Ich freue mich einfach, dass du da bist.«
»Es tut mir leid, Granny, aber ich muss dich etwas fragen über – über Charles Aubrey.« Er hatte erwartet, dass sie lächelte oder errötete oder dieser glückliche, geheimnistuerische Ausdruck in ihre Augen trat wie früher, wann immer Aubrey zur Sprache gekommen war. Stattdessen lehnte sie sich in ihrem Sessel zurück und schien ein wenig zusammenzusinken, vor ihm zurückzuweichen.
»Aha«, sagte sie.
»Als ich noch klein war, gab es oft diese Anspielungen … Verstehst du, es wurde angedeutet, dass möglicherweise Charles Aubrey mein wahrer Großvater ist.« Zachs Puls beschleunigte sich. Diese lange nur gedachte, doch nie ausgesprochene Vermutung in Worte zu fassen fühlte sich ungeheuerlich an.
»Ja, ich weiß«, sagte sie nur. Ihre Miene wirkte bekümmert, und das erstaunte Zach. Ihr Mann, Zachs Großvater, war elf Jahre zuvor gestorben. Die Wahrheit konnte ihn nicht mehr verletzen.
»Also, ich habe die letzten Wochen in Blacknowle verbracht …«
»In Blacknowle? Du warst in Blacknowle?«, unterbrach sie ihn.
»Ja. Ich wollte mehr über Aubreys Leben und sein Schaffen dort herausfinden.«
»Und, hast du etwas herausgefunden?« Sie beugte sich begierig vor.
»O ja. Das heißt …« Zach zögerte. Er hatte mit allem herausplatzen wollen, was er erfahren hatte. Doch er wusste, dass er das nicht durfte. Das Geheimnis, das Dimity ihr Leben lang so sorgsam gehütet hatte, durfte er jetzt nicht einfach verraten. Nicht einmal einer Frau, die Aubrey ebenfalls ihr Leben lang geliebt hatte. »Ich habe dort etwas gefunden. Und deshalb ist es sehr wichtig für mich, zu wissen, ob ich tatsächlich ein Nachkomme von Charles Aubrey bin. Ob ich nun sein Enkel bin oder nicht.«
Die alte Frau lehnte sich wieder zurück und kniff die Lippen zusammen. Ihre knochigen Hände klammerten sich um die Sessellehnen, und Zach spürte, wie ihm in dem überheizten Raum der Schweiß ausbrach. Er wartete, und eine Zeit lang schien es, als würde er keine Antwort erhalten. Der Blick seiner Großmutter war in die ferne Vergangenheit gerichtet, genau wie bei Dimity Hatcher. Aber schließlich begann sie zu sprechen.
»Charles Aubrey. Ach, er war
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