Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
vielleicht hätte ich deinen Großvater betrogen, aber Charles wollte mich nicht.« Sie presste die Lippen zusammen, als hätte sie sich selbst wehgetan. »So. Ich habe es dir gesagt, also bist du jetzt hoffentlich zufrieden.«
»Er hat dich abgewiesen?«
»Ja. Letzten Endes war er der Ehrenhaftere von uns beiden. Er hat mich in dem Zimmer über dem Pub aufgesucht, das wir gemietet hatten. Ich dachte, er sei gekommen, um mich zu verführen! Dabei wollte er mit mir Schluss ma chen. Nicht, dass da irgendetwas tatsächlich begonnen hätte. Da war nur – die Möglichkeit. Nur der Zauber. Doch stattdessen hat er unsere Beziehung beendet und mir damit das Herz gebrochen.« Sie berührte ihre Brust mit den Fingerspitzen und seufzte. »Er hat gesagt, er sei nicht frei, sich zu nehmen, was er will. Einfach zu tun, wie ihm beliebt. Er hat gesagt, er sei diesen Sommer bereits genau deshalb in Schwierigkeiten geraten und müsse vor allem an seine Familie denken.«
»Celeste und die Mädchen … Und er muss Dimity gemeint haben. Als er sagte, er sei bereits in Schwierigkeiten geraten, damit kann er nur Dimity gemeint haben. Sie hatten eine Affäre in jenem Sommer.«
»Dimity? Das kleine Mädchen aus dem Dorf? Aber sie war doch noch ein Kind! Ich kann mir kaum vorstellen, dass er …«
»Vielleicht meinte er das mit ›Schwierigkeiten‹.«
»Aber Zach, bist du sicher? Bist du ganz sicher, dass sie eine Affäre hatten?«
»Sie behauptet es jedenfalls steif und fest«, antwortete er, und seine Großmutter lächelte traurig.
»Aber erkennst du das denn nicht? Das habe ich auch behauptet. Bis heute habe ich genau dasselbe behauptet.«
Zach verließ die Wohnanlage kurz darauf, nicht ohne seiner Großmutter vorher das feste Versprechen gegeben zu haben, sie schon bald wieder zu besuchen. Ihre Worte hallten in seinem Kopf nach. Das habe ich auch behauptet. Was hatte das zu bedeuten? Dass Dimity auch keine Affäre mit ihm gehabt hatte? Aber irgendetwas musste passiert sein, wenn Aubrey seiner Großmutter davon erzählt hatte. Schwierigkeiten. So hatte er also die Liebesaffäre bezeichnet, von der Dimity ihm wochenlang erzählt hatte? Aber als er während des Krieges desertiert war, war er zu Dimity gekommen, und er war bei Dimity geblieben, viele lange Jahre danach. Oder war Dimity schlicht die Einzige, die ihm übrig geblieben war? Die Einzige, die da war, als Charles zurück kehrte, zutiefst verstört, verletzlich und schutzbedürftig. Aber nein – da war auch noch Delphine. Die einen Kilometer entfernt gelebt und die ganze Zeit über geglaubt hatte, ihr Vater sei im Krieg gefallen. Zach tat der Kopf weh. Dimity hatte ihr ungeheures Geheimnis sogar vor Delphine gewahrt, vor Charles’ Kind. Das war entsetzlich. Zach fuhr mit einer Hand am Lenkrad, die Knöchel der anderen an die Lippen gepresst. Und seine eigene Familie, sein Vater, sein Großvater, hatten mit einem Geist von Aubrey gelebt, der nichts weiter war als das. Ein Geist. Nichts Reales, nichts Wahrhaftiges. War Aubreys Ausstrahlung wirklich so machtvoll gewesen, dass auch nur eine Andeutung von ihm so lange weiterleben konnte? Offensichtlich ja. Und Zachs künst lerische Begabung war eine Laune des Schicksals, kein Erbe. Bei diesem Gedanken spürte er, wie ihm etwas entglitt, das er viele Jahre lang gut festgehalten hatte. Erst dachte er, er würde es vermissen, doch stattdessen fühlte er sich leichter.
Zach nahm den direkten Weg zu The Watch. Es war schon spät am Nachmittag, und als auf sein Klopfen niemand öffnete, drehte er am Knauf. Die Tür war nicht abgeschlossen, und er betrat mit einem unguten Gefühl das Haus. Normalerweise schloss Dimity immer ab. Er hatte immer Riegel klappern hören, ehe sie die Tür aufmachte. Zum zweiten Mal an diesem Tag rief er auf der Treppe ihren Namen, und sein Kopf war so voll mit Gedanken, dass er kaum einen davon klar betrachten konnte. Er wusste nur, dass er Fragen an Dimity hatte, Fragen, die Vorwürfe enthalten konnten. Dimity hatte sich nicht gerührt. Sie lag immer noch in ihrem Bett auf der Seite, und diesmal eilte Zach erschrocken zu ihr hinein und seufzte erleichtert auf, als er sie atmen hörte. Ihre Augen waren offen, der Blick starr ins Leere gerichtet. Sie blinzelte, als Zach neben ihr in die Hocke ging. Er schüttelte sie sanft.
»Dimity, was haben Sie? Fühlen Sie sich nicht gut?« Wortlos schluckte Dimity und versuchte sich aufzusetzen. Zach half ihr und führte dann vorsichtig ihre Beine, nur Haut und
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