Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
Sie tauchte weit östlich von der Stelle wieder auf, wo sie hineingesprungen war, fast direkt auf Zachs Höhe. Sie strich sich das Haar aus dem Gesicht, trat einen Moment lang Wasser und war dann mit einem leisen Platschen wieder verschwunden. Etwa eine Viertelstunde lang schwamm und tauchte sie abwechselnd oder ließ sich gemächlich auf dem Rücken dahintreiben. Zach machte sich keine Gedanken mehr darum, dass sie ihn entdecken könnte, denn anscheinend bestand keinerlei Gefahr. Als sie schließlich aus dem Wasser kam, zog sie ein wenig verkrampft die Schultern hoch, und er sah deutlich, wie sie in der Brise fror. In diesem Moment wäre er am liebsten hinuntergegangen. Er würde zusehen, wie ihr das Wasser aus dem Haar rann und ein Tropfen an ihrem Kinn hing, wie eine Gänsehaut ihren ganzen Körper überzog. Sie würde nach Salz schmecken. Hastig zog sie sich an, zerrte ihre Kleidung energisch über ihre feuchte Haut und verschwand dann so nah unter der Klippe, dass er sie nicht mehr sehen konnte.
Er blieb lange da hinten am Rand der Klippe. Dimity konnte ihn vom Küchenfenster aus sehen und ging alle paar Minuten hin, um nachzuschauen, ob er noch da war. Streng genommen war das ihr Grund und Boden. Streng genommen hatte er da nichts zu suchen. Valentina hätte das nicht geduldet – sie wäre längst hinausgelaufen, um ihn mit ihren glühenden Augen und dieser Stimme zu verscheuchen, die über einen halben Kilometer weit trug, wenn sie es darauf anlegte. Dimity zögerte eine Weile am Fenster und fragte sich, ob sie ihn doch hätte hereinbitten sollen, ob sie das jetzt noch nachholen sollte. Aber sie hatte so sehr gehofft, dass sie heute den Zauber für den Kamin anfertigen und damit weitere ungebetene Besucher würde aussperren können. Vielleicht sogar eine Besucherin wieder loswerden, die bereits zurückgekehrt und einfach hereinspaziert war. Wieder spähte sie zu ihm hinaus. Die Ähnlichkeit mit Charles, die sie beim ersten flüchtigen Blick an ihm gesehen zu haben glaubte, war völlig verschwunden. Hände und Kopf dieses Mannes waren still, nicht ständig in Bewegung, hierhin blickend, dort hantierend wie bei Charles. Er hatte nichts von Charles’ Feuer, seiner Energie. Der junge Mann auf der Klippe wirkte eher wie ein Schlafwandler, und sie befürchtete beinahe, er könnte vornüberkippen und vom Felsen stürzen.
In ihrem Kopf kreiste ein Lied in einer endlosen Schleife. Ein Reim aus ihrer Kindheit schlug einen Takt, dem sie sich nicht entziehen konnte. Ein Seemann fuhr aufs Meer, Meer, Meer, er wollte sehen mehr, mehr, mehr, nun sieht er gar nichts mehr, mehr, mehr, als den Grund vom tiefen Meer, Meer, Meer … Erst dachte sie, der tropfende Wasserhahn in der Küche hätte mit seinem steten »Plink«, wenn das Wasser auf das angeschlagene Porzellan traf, den Geist dieses Liedchens beschworen. Sie stand in der Küche und schloss die Augen, und sogleich roch der Raum viel stärker – die schalen Gerüche von Brotkrümeln und Milch, der scharfe Gestank angebrannter Stellen auf der Herdplatte, die ekelhafte Ausdünstung von hundert Jahren fettiger Essensreste, die sich in den Winkeln der Schränke und den Rissen im Boden versteckten. Ein Hauch von Valentinas Parfüm, dem Veilchenwasser, das sie sich stets hinter die Ohren tupfte, wenn sie einen Gast erwartete. Dimity befürchtete, sie vor sich zu sehen, wenn sie jetzt die Augen öffnete. Sie könnte sie dabei ertappen, wie sie ganz nah bei ihrer Tochter stand und lächelte. Mitzy, mein Mädchen, auf dich wartet der Reichtum. Dann strich sie Dimity das bronzefarbene Haar hinter die Schultern, benommen und zärtlich, mit Weindunst im Atem und halb geschlossenen Lidern.
Dimity kniff die Augen fest zu und biss die Zähne zusammen, damit der Veilchenduft sich nicht auf ihre Zunge legen konnte. Der Vers schien sich ganz hinten in ihrer Kehle selbst zu summen. Mehr, mehr, mehr, Meer, Meer, Meer, hüpfte es unwiderstehlich im Takt. Dazu gehörte das Ge räusch straffer jugendlicher Handflächen, die gegenein an derklatschten. Dieses Bild, das er ans Fenster gehalten hatte … Sie hatte nur einen kurzen Blick darauf erhascht, aber sie hatte es trotz der Entfernung sofort erkannt. Das war ihre erste Begegnung mit ihm gewesen, das erste Mal, dass er sie gezeichnet hatte. Da hatte sie nicht einmal gewusst, dass er dort war, hatte ihn überhaupt noch nie gesehen, ehe er sie zu einer Gestalt auf einem Blatt Papier machte – sie in sich aufnahm und dann neu erschuf, sie
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