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Das verborgene Lied: Roman (German Edition)

Das verborgene Lied: Roman (German Edition)

Titel: Das verborgene Lied: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Webb
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es kaum über sich, durch das kleine Tor den Garten zu betreten, so sonderbar fühlte sich das an. Delphine nahm es mit fragend zur Seite geneigtem Kopf hin und drängte sie nicht zu einer Erklärung. Sie sauste ins Haus und kam mit zwei dicken Scheiben Brot mit reichlich Honig wieder heraus. Dimity verschlang ihre Scheibe binnen Sekunden, und dann setzten sie sich in der Morgensonne ins feuchte Gras und leckten sich die Finger ab. Delphine wischte mit einem Ampferblatt den Matsch von ihren Schuhen und schaute auf die glitzernde weite See hinaus.
    »Wusstest du, dass das Meer nur blau ist, weil es die Farbe des Himmels reflektiert? Also ist es eigentlich gar nicht blau«, bemerkte sie. Und Dimity nickte. Das leuchtete ihr ein, obwohl sie noch nie darüber nachgedacht hatte. Sie stellte sich das Meer an einem stürmischen Tag vor, so grau und bleich wie die Wolken. »Das Mittelmeer hat eine ganz andere Farbe, also muss der Himmel darüber ein anderes Blau haben. Was schon seltsam ist, denn die Sonne und so weiter sind ja gleich. Aber dann muss die Luft anders sein oder so. Oder meinst du, es könnte auch davon abhängen, was unter dem Wasser ist? Ich meine, am Grund?«, fragte sie. Dimity dachte kurz darüber nach. Sie hatte noch nie vom Mittelmeer gehört und wollte nicht, dass ihre neue Freundin das merkte.
    »Glaube ich nicht«, sagte sie schließlich. »Wenn man nur ein Stückchen rausschwimmt, ist das Wasser schon zu tief, um bis auf den Grund zu schauen, oder?«
    »Den Grund vom tiefen Meer, Meer, Meer«, sagte Del phine. »Du hast Heu in den Haaren«, fügte sie hinzu, streckte den Arm aus und zupfte den Stängel von Dimitys Kopf. Dann rappelte sie sich auf. »Komm schon, steh auf. Wir spielen das Klatschspiel.« Sie brachte Dimity den Reim über den Seemann und das tiefe Meer bei, und Dimity, die so etwas noch nie gespielt hatte, klatschte immer wieder falsch. Sie musste sich sehr konzentrieren und gab sich die größte Mühe, mitzuhalten, während Delphines Hände sich immer schneller bewegten, und ihrer Meinung nach war das Spiel nicht halb so lustig, wie Delphine es offenbar fand. Aber sie machte mit, um diesem seltsamen, gesprächigen Mädchen eine Freude zu machen, und irgendwann spürte sie den kribbelnden Druck eines beobachtenden Blickes. Zunächst glaubte sie, sie bilde sich das nur ein, aus lauter Nervosität, weil sie ständig fürchtete, als Erste falsch zu klatschen und das Spiel zu verderben, aber nach etwa zwanzig Minuten kam ein Mann mit einem großen, flachen Buch aus dem Haus.
    Er war groß und dünn und trug eine enge graue Hose und das seltsamste Hemd, das Dimity je an einem Mann gesehen hatte – lang und weit, mit offenem Kragen, durch den man ein Stück seiner behaarten, braun gebrannten Brust sehen konnte. Es erinnerte sie an die Kittel, die Milchmädchen zum Melken trugen, aber es war aus gröberem Stoff gefertigt, einer Art schwerem Leinen. Sein kräftiges, gewell tes Haar schimmerte in einem satten rötlichen Braunton. Es war in der Mitte gescheitelt und wuchs ihm seitlich über die Ohren, im Nacken bis zum Hemdkragen. Dimity hörte augenblicklich zu klatschen auf, wich mehrere Schritte zurück und schlug die Augen nieder. Sie rechnete damit, angeschrien und fortgejagt zu werden. Sie war so sehr daran gewöhnt, dass ihr Blick, als sie kurz zu ihm aufschaute, finster und giftig war. Der Mann prallte leicht zurück, doch dann lächelte er.
    »Wer ist das, Delphine?«
    »Das ist Mitzy. Sie wohnt – hier in der Nähe. Das ist mein Vater«, sagte Delphine, packte Mitzys Hand und zog sie mit sich in Richtung des Mannes. Der streckte ihr die Hand hin. Das hatte noch nie, niemals, ein Erwachsener getan. Verblüfft ergriff Mitzy die Hand und spürte, wie sie fest ihre Finger umschloss. Seine Hand war groß und rau, die Haut trocken und voller kleiner Farbflecken. Die Knöchel standen weiß hervor, und die Fingernägel waren kurz und leicht gerundet. Er hielt ihre Hand eine Sekunde länger fest, als sie ertragen konnte, und sie zog sie zurück. Wieder huschte ihr Blick ganz kurz zu seinem Gesicht. Die Sonne schien ihm in die Augen und verlieh ihnen das tiefe, schimmernde Braun von frisch geschälten Rosskastanien.
    »Charles Aubrey«, sagte er. Seine Stimme war weich und tief.
    »Gehst du zeichnen?«, fragte Delphine. Er schüttelte den Kopf.
    »Ich habe schon gezeichnet. Euch beide bei eurem Spiel. Möchtest du das Bild sehen?« Und obwohl Delphine diejenige war, die Ja sagte und sich über

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