Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
Nähe sah Dimity, dass es braune Augen hatte, einen offenen, direk ten Blick und üppiges, rebellisches Haar, das sich bereits an mehreren Stellen aus zwei glänzenden braunen Zöpfen befreit hatte. Dimitys Puls raste vor Spannung, wie sie wohl angesprochen werden würde, doch nach einer weiteren langen Pause lächelte das Mädchen und streckte ihr die Hand hin.
»Guten Tag. Ich bin Delphine Madeleine Anne Aubrey, aber du kannst mich einfach Delphine nennen.« Ihre Hand fühlte sich glatt und kühl an, die Fingernägel waren sauber geschrubbt. Dimity war seit dem Morgengrauen unter wegs, hatte nach den Fallen geschaut, den Hühnerstall ausgemistet und Gemüse geerntet. Ihre Fingernägel waren schmutzig, und Erde klebte darunter. Erde und Schlimmeres. Vorsichtig schüttelte sie Delphines Hand.
»Mitzy«, brachte sie mühsam hervor.
»Freut mich, dich kennenzulernen, Mitzy. Wohnst du auf dem Hof?«, fragte Delphine und zeigte den Hügel hinab auf die Southern Farm. Dimity schüttelte den Kopf. »Wo wohnst du denn? Wir wohnen über den Sommer hier. Meine Schwester auch, aber so früh wirst du sie nie draußen sehen. Sie ist eine faule Langschläferin.«
»Über den Sommer?«, fragte Dimity verwirrt. Sie war überwältigt von dem Mädchen, von seiner ruhigen, höf lichen Begrüßung. Fremde, dachte sie. Fremde von weit, weit weg, die noch nicht wussten, dass man die Hatchers zu verab scheuen hatte. Dimity hatte noch nie von Menschen gehört, die über den Sommer woanders wohnten als während des restlichen Jahres – wie die Schwalben. Sie hätte gern gewusst, wo sie überwinterten, fürchtete aber, es könnte unhöflich sein, danach zu fragen.
»Du hast einen lustigen Akzent! Aber gut – ich meine, er gefällt mir. Übrigens, ich bin zwölf. Wie alt bist du?«, fragte Delphine.
»Vierzehn.«
»Oh, du Glückliche! Ich kann es gar nicht erwarten, endlich vierzehn zu sein – meine Mummy sagt, mit vierzehn darf ich mir Ohrlöcher stechen lassen, obwohl Daddy meint, das sei noch zu jung, wir sollten uns darauf konzentrieren, Kinder zu sein, und nicht so schnell erwachsen werden wollen. Aber das ist blöd, oder? Man darf doch praktisch gar nichts, wenn man ein Kind ist.«
»Ja«, stimmte Dimity vorsichtig zu, immer noch unsicher, wie sie sich gegenüber so viel offener Freundlichkeit verhalten sollte. Delphine verschränkte die Arme und schien ihre neue Bekanntschaft sorgfältig zu mustern.
»Was willst du in den Korb tun? Er ist leer, aber niemand trägt einen leeren Korb mit sich herum, wenn er nicht vorhat, etwas hineinzutun«, sagte sie.
Also führte Dimity sie hinters Haus, aus dem nun das muntere Klappern von Töpfen und Pfannen drang und der Duft von frisch gebackenem Brot. Sie zeigte dem Mädchen den Bach und die Wasserkresse und welche Steine man anheben musste, um die Flusskrebse zu finden, die sich darunter versteckten. Zunächst wollte Delphine sich nicht die Schuhe schmutzig und die Hände nass machen. Sie riss die Finger hastig wieder aus dem Wasser und rieb sie am Rock ihres Trägerkleids trocken. Doch schon bald wurde sie mutiger. Sie kreischte und wich zurück, als Dimity einen großen Flusskrebs hochhielt, der zornig mit den Scheren wedelte. Dimity versuchte ihr zu versichern, dass nichts pas sieren konnte, doch Delphine wollte nicht näher kommen, bis Dimity den Krebs ein Stück flussabwärts wieder in den Bach geworfen hatte. Bedauernd sah sie ihm nach.
»Diese vielen Beine, weißt du? Die sind widerlich! Igitt! Ich verstehe gar nicht, wie du die essen kannst!«, sagte Delphine.
»Das ist auch nicht anders, als Krabben oder Garnelen zu essen«, erklärte Dimity ihr. »Meine Mutter wollte nachher welche haben, für die Suppe zum Abendessen.«
»Oje. Bekommst du Ärger, weil du den da wieder freigelassen hast?«
»Ich finde nicht immer welche – sie sind recht selten. Ich sage ihr einfach, dass es heute keine gab.« Dimity spielte schulterzuckend eine Gleichgültigkeit vor, die sie nicht emp fand. Die Schlingen waren auch leer gewesen. Sie konnte nur hoffen, dass sie noch irgendetwas anderes finden oder ein Besucher mit etwas Schinken oder einem Kaninchen kommen würde, denn sonst hätten sie nichts in der Suppe außer Gerste und Gemüse. Allein beim Gedanken an eine so karge Mahlzeit knurrte ihr laut der Magen. Delphine warf ihr einen Blick zu und lachte.
»Hast du noch nicht gefrühstückt? Komm mit, wir gehen rein und essen etwas.«
Aber Dimity wollte nicht mit hineingehen. Sie brachte
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