Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
in Besitz nahm. Genau so fühlte sie sich, als sie das Bild später sah. Besessen.
Das Haus hieß Littlecombe. Es stand in einem verwilderten Garten ganz am östlichen Rand von Blacknowle an einem Weg, der in Richtung Meer hinausragte. Wie ein Echo von The Watch, beinahe ein Spiegelbild ihres Häuschens, aber doch nicht ganz – Littlecombe stand näher am Dorf und war noch gerade so ein Teil davon. Von hier aus konnte man über Weiden zu den Klippen gehen, genau wie von The Watch, und dort stieß man dann auf den Pfad gen Westen nach Tyneham. Hinter dem Haus hatte ein Bach eine kleine Schlucht in den Boden gegraben und fiel mit stetem Plätschern an der Klippe hinab, das Wasser matschig braun nach schwerem Regen. Das war einer der besten Plätze, um Wasserkresse zu ernten und Flusskrebse zu fangen, und da das Haus seit drei Jahren leer stand, dachte Dimity sich nichts dabei.
Vorher hatte hier ein alter Mann namens Fitch gewohnt, sein ganzes Leben lang, soweit man wusste. Fitch schien keinen weiteren Namen zu haben. Jeden Abend außer sonn tags hinkte er ächzend und schwankend zum Spout Lantern Pub, und wenn er nicht hustete, zog er an einer dünnen, filterlosen Zigarette. Tiefe Runzeln waren in sein Gesicht gegraben, und seine rechte Hand war klauenförmig erstarrt – Zeigefinger und Daumen im richtigen Abstand und stets bereit, die nächste Zigarette zu halten. Als er eines Samstagabends nicht im Pub auftauchte, wussten die Bewohner von Blacknowle, was das bedeutete. Und als sie schließlich nach Littlecombe gingen, hatten sie die Bahre gleich dabei. Sie fanden ihn in seinem Sessel, steif und kalt, eine kümmerliche Kippe noch zwischen den Lippen. Dimity hätte ihnen gleich sagen können, dass er tot war, aber sie durfte nicht in den Pub, und die Leute sprachen nicht mit ihr, wenn sie es irgendwie vermeiden konnten. Deshalb sagte sie teils aus Angst und teils aus Gehässigkeit niemandem, was sie wusste – dass sie am Morgen dort hatte fischen wol len und die schwarzen Fenster sie angeschrien hatten und dass da eine furchtbar unheimliche Leere gewesen war, wo sie einst die Anwesenheit eines Lebewesens innerhalb der Mauern gespürt hatte. Sein Tod war wie ein seltsamer Geruch in der Luft oder das plötzliche Verklingen eines Geräuschs, dessen man sich vorher gar nicht bewusst gewesen war.
Und dann hatte das Haus drei Jahre lang leer gestanden, denn der mit dem Besitzer seit Langem zerstrittene Cousin, der es geerbt hatte, wollte anscheinend nichts damit zu tun haben. Ein paar Ziegel glitten vom Dach, zerbarsten in den Blumenbeeten und köpften den wuchernden Löwenzahn. Disteln wuchsen so hoch, dass sie die Fensterbretter streiften, im Winter platzte ein Rohr, und das Wasser hinterließ eine schillernde Eisschicht an der ganzen Wand. Das Haus war quadratisch wie ein Backstein, drei Zimmer oben und drei unten. Viktorianisch, nüchtern, nicht ohne Charme, aber keineswegs besonders schön. Dann, eines Morgens, hatte Dimity eine der Southern-Farm-Weiden schon halb überquert, als sie abrupt stehen blieb. Ein dünnes Rauchfähnchen stieg aus dem Schornstein schnurgerade in die kristallklare Luft. Es war Sommeranfang und morgens noch recht kühl. Plötzlich fühlte sie sich wie in einem Scheinwerferkegel und verlagerte ihr Gewicht auf einen Fuß, bereit zur Flucht. Sie hatte nichts von neuen Besitzern gehört, obwohl sie viel vom Dorfklatsch belauschte, wenn sie sich in der Nähe des Ladens oder der Bushaltestelle herumdrückte. Neuen Besitzern würde es vielleicht nicht passen, wenn sie in den Bach stieg. Sie könnten ihr Ernten als Dieb stahl betrachten. Womöglich hatten sie sogar einen Hund und ließen ihn auf sie los, wie Wilf Coulsons Mutter es getan hatte, als Dimity einmal an die Tür geklopft hatte, um mit plötzlich trockenem Mund zu fragen, ob er herauskommen und mit ihr spielen dürfte.
Doch als sie gerade den Rückzug antreten wollte, sah sie, dass jemand sie bereits beobachtete. Und das war kein finster dreinblickender Mann oder eine zornige Frau mit einem Hund, sondern ein junges Mädchen. Jünger als Dimity, vielleicht elf oder zwölf, mittelgroß, schmal mit kantigen Schultern. Die Füße steckten in braunen Lederschuhen mit Schnallen, es trug weiße Strümpfe bis zu den Knien und war in eine kanariengelbe Strickjacke gewickelt. Das Mädchen stand am wackeligen Tor zu dem kleinen Garten vor Littlecombe, und sie betrachteten einander eine Weile. Dann kam das Mädchen heraus und auf sie zu. Aus der
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