Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
Kurzwarengeschäft? Ich brauche Nadeln.«
Dank der Wegbeschreibung des Metzgers fand er den Laden, und nach kurzer Verwirrung angesichts der Vielfalt an Nadeln, die es zu kaufen gab, nahm er eine Schachtel schlichte, altmodische Stecknadeln. Ganz aus Stahl – keine Plastikköpfe, Durchschnittsgröße. Als er das Geschäft verließ, bemerkte er einen kleinen Schreibwarenladen auf der gegenüberliegenden Straßenseite und hielt inne. Eigentlich wollte er gar nicht erst versuchen, etwas zu malen oder zu zeichnen, falls das Ergebnis genauso fade und enttäuschend ausfallen sollte wie bei seinen letzten Anläufen. Er verspürte eine Art Grauen davor, dass das keine Ausrutscher gewe sen sein könnten oder nur ein vorübergehender Mangel an Inspiration. Dass er seine künstlerische Ader bereits ausgebeutet haben könnte. Vor über einem Jahr hatte er es zuletzt versucht. Er betrat den Laden, nur um sich ein wenig umzuschauen, und verließ ihn kurz darauf mit zwei großen Skizzenblöcken, Pastellkreiden, Tinte, Bleistiften, einem Kasten Aquarellfarben mit einer Mischpalette im Deckel und zwei Pinseln, einem feinen und einem so dick wie eine Fingerspitze. Er hatte nicht so viel Geld ausgeben wollen, aber diese grundlegenden Werkzeuge zu besitzen war wie ein Treffen mit alten Freunden. Ein Wiedersehen mit jemandem, den man als Kind gut gekannt hat. Er fuhr nach Blacknowle zurück und genoss die unterschwellige Aufregung über ein Geschenk, das darauf wartete, ausgepackt zu werden.
Doch das erste Geschenk war nicht für ihn, sondern für Dimity Hatcher. Er parkte beim Pub und ging zu Fuß zu ihrem Cottage, weil er dem Wagen auf dem holprigen, stei nigen Weg da hinauf nicht traute. Als er es erreichte, schaute er den Hügel hinab zur Southern Farm und suchte nach einer dunkelhaarigen Gestalt, die sich mit ener giegeladener Präzision bewegte. Seltsam, dass ihr Gang sich ihm schon so genau eingeprägt hatte. Doch da unten rührte sich nichts, abgesehen von ein paar beigefarbenen Schafen auf der großen Weide hinter dem Haus. Also klopfte er laut an die Tür des Häuschens.
Als Dimity Hatcher die Tür öffnete, spähte sie durch einen schmalen Spalt heraus, genau wie beim ersten Mal, und auch genauso argwöhnisch, als wären sie sich noch nie begegnet. Zach sank der Mut. Das offene Haar hing der alten Frau wirr ums Gesicht, und sie trug dieselben fingerlosen roten Handschuhe und ein weites blaues Kleid, das beinahe an einen Kaftan erinnerte.
»Ich bin es, Zach, Miss Hatcher. Ich war schon einmal hier, erinnern Sie sich? Sie haben mich gebeten, wiederzukommen und Ihnen etwas mitzubringen – und vielleicht noch ein bisschen über Charles Audrey zu sprechen?«
»Natürlich erinnere ich mich. Das war gestern«, sagte sie nach einer kurzen Pause.
»Oh, gut. Ja, natürlich.« Zach lächelte.
»Haben Sie es dabei? Worum ich Sie gebeten habe?«, fragte sie. Zach grapschte ungeschickt nach dem gut eingewickelten Rinderherz in seiner Einkaufstüte und hielt es ihr hin.
»Ich habe es in Zeitungspapier gewickelt, damit es kühl bleibt, bis ich hier bin.«
»Gut, gut. Darf nicht verderben«, sagte sie wie zu sich selbst. Dann murmelte sie etwas vor sich hin, während sie es auspackte, unartikulierte Laute, vielleicht ein Liedchen. Sobald das Herz ganz ausgewickelt war, roch sie daran. Nicht schnell und vorsichtig, wie Zach daran geschnuppert hätte, nein, sie sog lang und tief die Luft darüber ein. Dies war das prüfende Riechen eines Connaisseurs, mit dem ein Fachmann etwa an Wein schnuppern würde. Zach wurde nervös wegen seiner Täuschung. Dimity pikte den Zeigefinger in das Herz und beobachtete, wie das Fleisch langsam seine ursprüngliche Form wieder annahm und die Kuhle ausfüllte, die sie hinterlassen hatte. Dann drückte sie das offene Papierbündel kopfschüttelnd wieder Zach in die Hand. Ihre Miene wirkte nicht verärgert, eher enttäuscht. »Nicht älter als einen Tag«, sagte sie und schloss die Tür.
Sprachlos klopfte Zach noch einmal an, aber Dimity hatte offensichtlich nicht die Absicht, ihm aufzumachen. Fluchend trat er ans Fenster, drückte die Stirn an die Scheibe und schirmte das Gesicht mit beiden Händen ab, damit das Glas nicht spiegelte. Ihm war sehr wohl bewusst, dass ihm das bei ihr wahrscheinlich nicht helfen würde.
»Miss Hatcher? Dimity? Ich habe auch die Nadeln, um die Sie gebeten haben, und ich kann Ihnen ein – frischeres Herz besorgen, am Dienstag, hat der Metzger gesagt. Ich bringe es Ihnen
Weitere Kostenlose Bücher