Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
strahlten sie in einem hellen Blaugrün. Sie leuch teten geradezu überirdisch in ihrem Gesicht, noch heller sogar als der Sommerhimmel über ihnen. Dimity starrte die Frau an.
»Freut mich sehr, dich kennenzulernen. Den Namen Mitzy habe ich noch nie gehört. Ist er typisch für die Gegend hier?« Celestes Stimme war tief, und sie sprach mit deutlichem Akzent – aber keinem, den Dimity je zuvor gehört hatte und den sie deshalb auch nicht zuordnen konnte.
»Dimity. Kurzform von Dimity«, brachte sie mühsam hervor, noch immer vor Ehrfurcht und Faszination wie erstarrt.
» Dimity? Was für ein alberner Name!«, sagte Élodie, die es offensichtlich nicht gewöhnt war, dass jemand anders im Mittelpunkt stand.
»Élodie! Bitte benimm dich«, mahnte Charles Aubrey – seine ersten Worte. Das kleine Mädchen schmollte, und Dimity sah es mit Befriedigung.
»Charles’ Zeichnung von dir und meiner Delphine hat mir gut gefallen. So hübsch, wie ihr darauf zusammen spielt. Wir würden uns freuen, wenn du mit uns zu Mittag isst. Ich hoffe, du kommst? Als Wiedergutmachung dafür, dass er dich nicht um Erlaubnis gefragt hat«, sagte Celeste. Sie warf Aubrey einen milde tadelnden Blick zu, doch der lä chelte nur.
»Wenn ich gefragt hätte, wäre der Zauber des Augen blicks verloren gewesen«, entgegnete er.
»Es gibt Schlimmeres, mein Lieber. Also dann, gehen wir weiter und überlassen das Mädchen seiner Muschelsuche. Du kennst ja den Weg zu unserem Haus, nicht? Komm heute Mittag herüber, und iss mit uns. Ich bestehe darauf.« Sie hakte sich bei Charles unter, und sie gingen weiter, ehe Dimity sich so weit gesammelt hatte, dass sie sprechen konnte. Valentina könnte Besuch haben, dachte sie verzweifelt, oder eine dieser Launen, die sie dazu trieben, sich nachmittags in den Schlaf zu trinken. Wenn sie Glück hatte, würde sie vielleicht gehen können, ohne dass Valentina Fragen stellte.
»Bis später, Mitzy.« Delphine winkte ihr zu. Élodie reckte die Nase in die Höhe und ging mit besonders vorsichtigen Schritten davon, als wollte sie ihre Überlegenheit dadurch beweisen, dass sie wusste, was sich gehörte. Zu spät wurde Dimity bewusst, dass ihre Bluse vorn nass und sandig war vom Muschelnsammeln und an ihrem Bauch klebte. Zu spät fiel ihr ein, dass sie sich heute Morgen nicht das Haar gebürstet hatte. Aufgeregt fuhr sie mit den Fingern hindurch und starrte den vieren nach, die den Strand entlangspazierten. Celeste hatte schlanke Arme und eine schmale Taille über breiten Hüften. Sie bewegte sich fließend und anmutig. Ihre Schönheit versetzte Dimity einen Stich, den sie nicht deuten konnte, und während sie dastand, die Frau bewunderte und an ihrem eigenen, abgerissenen Äuße ren herumzupfte, schaute der Künstler-Mann zu ihr zu rück. Der lange, forschende Blick über die Schulter war viel mehr als ein flüchtiges Umschauen, doch er war schon zu weit weg, als dass sie seinen Gesichtsausdruck hätte deuten können.
Dimity blieb noch eine Weile am Strand. Es hatte keinen Zweck mehr, nach Muscheln zu suchen, denn die hatten sich mit Sicherheit in der Tiefe versteckt. Aber sie wollte der Familie auch nicht nachgehen. Also schlenderte sie ein Stück den Strand hinauf, raffte ihren Rock und setzte sich dahin, wo der Sand trocken genug war. Mit einer Hand beschirmte sie die Augen gegen die Sonne und beobachtete Delphine und ihre Familie, bis sie in der Ferne ganz klein geworden waren. Sie konnte erkennen, wie sie abbogen und einen Weg zu den Klippen hinauf einschlugen. Der Künstler legte eine Hand in Celestes Rücken, um sie zu stützen, dann griff er nach Élodies Hand und hielt sie fest, während sie über die Felsen stiegen. Das war eine neue Art Vater. Freundlich und stark, nicht wie der von Wilf Coulson und viele andere Väter im Dorf, die oft unwirsch und verdrießlich waren. So wie dieser Mann hätte ihr eigener Vater sein können. Sie versuchte sich vorzustellen, wie es gewesen wäre, in Élodies Alter einen Mann wie Charles Aubrey an ihrer Seite zu haben, der sie bei der Hand nahm, wenn der Weg steil wurde.
Es wurde Mittag, und kein Besucher näherte sich The Watch. Dimity kämmte sich das Haar, so gut es eben ging, ohne vorher das Salz herauszuwaschen. Sie zog eine saubere Bluse an und versuchte, ihrer Mutter aus dem Weg zu gehen. Valentina stand mit zwei frisch gehäuteten Kaninchen in der Küche und schabte mit grausamen Messerstrichen die Innenseite der Felle, um sie fürs Gerben vorzubereiten. Ihr
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