Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
Erste richtige Freundin, meine ich. Was waren sie für Stadtmenschen, als sie zum ersten Mal herkamen! Nicht daran gewöhnt, sich die Schuhe schmutzig zu machen. Aber sie hat sich verändert. Ich glaube, sie wollte ein bisschen so sein wie ich – ein bisschen wild. Sie wollte lernen, wie man kocht und Beeren sammelt. Und ich wollte mehr wie sie sein – sie war so freundlich, und man konnte sich gut mit ihr unterhalten. Ihre Familie hat sie so sehr geliebt. Und was sie alles wusste! Ich hielt sie für den klügsten Menschen, den ich kannte. Selbst später noch, als sie ins Internat ging und sich mehr für Mode und Jungen interessierte, und fürs Kino – war sie immer noch meine liebe Freundin. Manchmal hat sie mir geschrieben, während der Wintermonate, wenn sie nicht hier waren. Hat mir alles über diese Lehrerin und jenen Jungen berichtet, über ein Mädchen, mit dem sie sich gestritten hatte … Wie habe ich sie danach vermisst. Ich habe sie wirklich vermisst.«
»Danach? Wissen Sie, was aus Delphine geworden ist? Sie verschwand irgendwann gewissermaßen aus dem Blick der Öffentlichkeit – nicht, dass ihr je große Aufmerksamkeit zuteilgeworden wäre. Aubrey hat seine Familie stets sehr gut abgeschirmt. Aber nachdem er im Krieg gefallen war, wird sie in keinem der Bücher über ihn auch nur mit einem Wort erwähnt …« Zach hielt inne, als er Dimitys Gesichtsausdruck sah. Ihr Blick war auf Dinge gerichtet, die für ihn unsichtbar blieben, und ihre Lippen bewegten sich leicht, als lägen ihr Worte auf der Zunge, die nicht stark genug waren, um laut ausgesprochen zu werden. Einen Moment lang machte sie den Eindruck, als sähe sie unbeschreiblich grauenhafte Dinge.
»Dimity? Wissen Sie, was aus ihr geworden ist?«, drängte Zach sanft.
»Delphine … Sie … Nein«, erklärte sie schließlich. »Nein, ich weiß es nicht.« Ihre Stimme schwankte, doch dann blinzelte sie, schaute auf die Zeitschrift hinab, und wieder erhellte ein winziges Lächeln ihr Gesicht. Zach war sich sicher, dass sie log.
»Darf ich?« Er nahm ihr die Zeitschrift ab und blätterte ein paar Seiten weiter vor zu dem ersten Bild von Dennis, das vor etwa sechs Jahren auf dem Markt aufgetaucht war. »Was ist mit diesem Bild? Dem Datum nach müsste die Zeichnung hier in Blacknowle entstanden sein. Kannten Sie diesen Mann, Dennis? Können Sie sich an ihn erinnern?« Er hielt ihr das Magazin wieder hin. Sie nahm es widerstrebend entgegen und warf nur einen flüchtigen Blick auf das Bild. Ihre Wangen begannen zu leuchten, und eine fleckige Röte kroch an ihrem Hals empor. Ob das Schuldgefühle waren, Wut oder Scham … Zach konnte es nicht einschätzen. Sie sog hörbar scharf die Luft ein, einmal, zweimal.
»Nein«, stieß sie dann hervor und hielt die Zeitschrift von sich weg, als könne sie den Anblick nicht ertragen. Sie atmete weiter flach und schnell, und ihre Finger zitterten ein wenig, als sie zu dem Bild von ihr und Delphine zurückblätterte. »Nein, den kannte ich nicht.«
Um sie nicht völlig zu verschrecken, ließ Zach sie zu dem früheren Bild zurückkehren, ohne weitere Fragen über Dennis oder Delphines Schicksal zu stellen. Ihm wurde bewusst, dass er genauso neugierig auf Delphine war – das Mädchen, dessen Porträt er schon so lange betrachtete, ohne es recht zu kennen – wie auf ihren Vater. Doch offen sichtlich würde er sich noch gedulden müssen, denn er musste die Sache sehr vorsichtig angehen. Fürs Erste war er damit zufrieden, in Dimitys Wohnzimmer zu sitzen und zuzuhören, wie sie von ihrer ersten Begegnung mit den Aubreys erzählte, von dem Haus, das sie 1937 für den Som mer gemietet hatten, und wie es ihr gelungen war, diese neue Bekanntschaft so lange vor ihrer Mutter geheim zu halten.
»Sie meinen also, Ihre Mutter wäre damit nicht einver standen gewesen? Ich weiß, dass einige Leute im Dorf die Verhältnisse im Haus für viel zu freizügig hielten …«, bemerkte er und wünschte gleich darauf, er hätte den Mund gehalten. Dimity zog ein finsteres Gesicht, als sie unterbrochen wurde, und offensichtlich hatte er etwas Falsches gesagt, denn sie schien seine Worte ein paar Augenblicke lang verdauen zu müssen. Letztlich jedoch ignorierte sie die Frage und fuhr mit ihrer Erzählung fort.
Erst vier Tage später sah sie die Familie wieder. Sie war hin- und hergerissen zwischen dem sehnlichen Wunsch, Delphine wiederzusehen, und ihrer Unsicherheit, die an Angst grenzte – Angst davor, dass sie diese Leute nicht
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