Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
verstehen oder sich danebenbenehmen könnte, und was Valentina sagen würde, falls sie je von dieser Zeichnung erfuhr. Die Skizze hatte scheinbar ein kleines bisschen von ihrer Seele eingefangen und für immer auf Papier gebannt. Mit vierzehn Jahren war Dimitys Körper nicht mehr der eines Kindes. Sie hatte Brüste bekommen, die weiter wuchsen und dabei ständig dumpf schmerzten. Valentina zwickte manchmal grinsend hinein, als belustigten sie die Zeichen von erblühender Weiblichkeit an ihrer Tochter aus irgendeinem Grund, und von dem ungewöhnlichen Schmerz wurde Dimity übel. Ihre Hüften waren breiter geworden – so schnell, dass feine, rosige Risse die Haut durchzogen, die irgendwann zu zarten, silbrigen Streifen verblassten. Dimitys unwillkürlicher Hüftschwung veranlasste einige der Köpfe, die sich sonst stets abgewandt hatten, wenn sie durchs Dorf ging, sich nun nach ihr umzudrehen. In gewisser Hinsicht fand Dimity das sogar schlimmer. Sie war noch nicht be reit für die Art von Blicken, mit denen ihre Besucher manchmal ihre Mutter betrachteten, wenn sie mit zurückgekämmtem Haar bei ihnen erschienen, die Stiefel nicht einmal richtig zugeschnürt, damit sie leicht wieder ausgezogen werden konnten.
Sie wollte zu dem breiten Strand östlich von Blacknowle und schlug den längeren Weg ein, der weiter landeinwärts verlief, weil ein paar Jungen sich auf dem Klippenpfad herumtrieben. Sie warfen immer noch Sachen nach ihr und beschimpften sie, doch es waren auch andere Dinge hinzugekommen. Sie packten sie und versuchten, ihren Rock oder ihre Bluse hochzuziehen, knöpften sich die Hose auf und traten prahlerisch auf sie zu. Meistens baumelte der lange, schlaffe Penis dabei hin und her, manchmal ragte aber auch einer auf, steif wie ein anklagend erhobener Zeigefinger. Dimity war immer noch größer als die meisten dieser Jungen, sie konnte ebenso hart zuschlagen wie sie und genauso schnell rennen. Aber irgendwann würde sich das bestimmt ändern, und instinktiv ging sie ihnen noch sorgsamer aus dem Weg als zuvor. An jenem Tag war Wilf Coulson bei ihnen. Er sah sie aus der Ferne, doch er winkte ihr nicht zu, rief nicht nach ihr, machte aber auch die anderen nicht auf sie aufmerksam. Er war immer noch spindeldürr, immer noch ein Junge, immer noch von entzündeten Nebenhöhlen geplagt. Als er sie sah, schob er die mageren Hände in die Taschen und kehrte ihr den Rücken zu. Er schaute absichtlich nicht zu ihr hinüber, damit die anderen nicht seinen Blicken folgten und sie bemerkten. Rasch schlug sie einen Bogen und verschwand hinter einer Anhöhe außer Sicht. Für diese Loyalität würde sie ihm etwas geben, wenn sie ihn das nächste Mal sah. Sie mischte oft Mittel für seine Nase zusammen oder solche, die ihm beim Wachsen helfen sollten, doch meistens wollte er einen Kuss von ihr.
Es war Ebbe. Der Vollmond hatte in der Nacht zuvor das Wasser weit vom Ufer zurückgezogen und einen schmalen Bogen aus dunkelbraunem Sand enthüllt. Einen Eimer über den linken Unterarm gehängt, watete Dimity barfuß am Rand des Wassers entlang und setzte den Fuß bei jedem Schritt ganz vorsichtig auf, um ihre Beute nicht zu verschrecken. Es war ein stiller Tag, warm und sonnig. Ihre Füße leuchteten weiß im flachen Wasser, und der zu harten Rillen gepresste Sand fühlte sich gut unter ihren Sohlen an. Nichts war zu hören außer den Schreien der kreisenden Möwen über ihr und dem leisen Plätschern ihrer achtsamen Schritte. Das Wasser glitzerte. Wo die Sonne den Sand erwärmt hatte, roch er frisch und sauber. Die Löcher, nach denen sie suchte, maßen höchstens zwei Fingerbreit im Durchmesser. Wenn sie die Vibration ihrer Schritte spürten, gruben sich die Scheidenmuscheln mit einem verächt lichen kleinen Spritzen tiefer in den Sand ein, wo sie sie nicht mehr zu fassen bekam. In der rechten Hand hielt Dimity ein altes Schnitzmesser mit sehr dünner Klinge, zur Spitze hin gekrümmt. Wenn sie ein Loch entdeckte, stellte sie sich ganz sachte breitbeinig darüber, ging in die Hocke, stieß blitzschnell zu und zog die Muschel mit einer leichten Drehung der Klinge aus dem Sand, ehe sie entwischen konnte. Die Tiere hingen trostlos aus ihren Schalen, wölb ten sich und suchten tastend nach etwas, woran sie sich fest halten und in Sicherheit ziehen könnten. Dimity hatte schon zehn in ihrem Eimer, als sie Leute kommen hörte und wusste, dass es mit der Ernte für heute vorbei war.
Vier Gestalten – zwei große, zwei kleinere –
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