Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
Katalogen, und plötzlich, fast vierundzwanzig Stunden später, fiel ihm auf, wie geschickt Dimity Hatcher seiner Frage ausgewichen war, ob Aubrey ihr je Bilder geschenkt hatte. Ihre Reaktion auf die Zeichnung von Dennis, die er ihr gezeigt hatte, war interessant gewesen – wie sie errötet war und das Bild offenbar nicht länger hatte ansehen wollen. Er schlug zwei Kunstmagazine und den neuen Christie’s-Katalog bei den Dennis-Bildern auf und legte sie nebeneinander. Er saß an einem dunklen, klebrigen Tisch in der großen Nische des Spout Lantern und hatte den Fehler gemacht, zum Mittagessen zwei Gläser Bitter zu trinken. Sein Kopf fühlte sich warm und ein wenig träge an. Draußen schien die Sonne, ein verschmierter goldener Fleck hinter dem staubigen Fenster. Er hatte gehofft, dass der Alkohol sein Nachdenken ein wenig lockern und ihm abstrakte Sprünge und Querverbindungen zwischen seinen vielen Notizen erlauben würde, damit er auf Ideen für einen neuen Plan kam – einen brillanten, glasklaren Plan. Stattdessen kehrten seine Gedanken immer wieder zu seinem Vater und Großvater zurück. Er erinnerte sich daran, wie das Schweigen zwischen ihnen manchmal gewachsen war, bis es den ganzen Raum, das ganze Haus auszufüllen schien. Es wurde so drückend und greifbar, dass Zach sich wand und zappelte und nicht stillsitzen konnte, bis man ihn schließ lich in sein Zimmer oder hinaus in den Garten schickte. Er erinnerte sich daran, wie sein Großvater immer nur etwas zu kritisieren und zu bemängeln fand und wie geknickt sein Vater nach jeder solchen Bemerkung wirkte – irgendeine Ungenauigkeit bei Wartungsarbeiten am Auto, nicht ganz korrekt dekantierter Wein, ein kritisches Zwischenzeugnis von Zach. Unzählige Male hatte Zach gesehen, wie seine Mutter seinen Vater böse anfunkelte. Warum lässt du dir das gefallen? Dann war sein Vater an der Reihe, sich vor Unbehagen zu winden und herumzuzappeln.
»Pete hat mich hergeschickt, weil Ihr langes Gesicht die Gäste vergrault.« Hannah Brock stand mit unbekümmerter Miene und einem Bier in der Hand vor seinem Tisch. Einen Augenblick lang verschlug es ihm die Sprache, und er richtete sich auf. Hannah nippte an ihrem Bier und deutete auf die Stapel von Material auf seinem Tisch. »Was ist das alles? Ihr Buch?« Sie tippte mit den Fingerspitzen auf den Katalog direkt vor ihr, und Zach bemerkte einen kräftigen Schmutzrand unter jedem einzelnen Fingernagel.
»Eines Tages wird das mein Buch sein, ja. Vielleicht. Wenn ich es je hinbekomme.«
»Darf ich mich setzen?«
»Gerne.«
»Es gibt schon eine Menge Bücher über Aubrey, nicht? Können Sie nicht einfach eines davon abschreiben?« Sie grinste.
»Ach, das habe ich auch schon versucht. Als ich vor Jah ren mit diesem Projekt angefangen habe, habe ich sämt liche Bücher über ihn gelesen, dann seine gesammelten Briefe, danach habe ich sämtliche Stationen seines Lebens besucht – wo er geboren wurde, aufgewachsen ist, gelernt, gelebt, gearbeitet hat und so weiter. Und nach alledem wurde mir klar, dass mein Buch, das so grundlegend neu und tiefschürfend werden sollte …«
»Genauso war wie all die anderen Bücher?«
»So ist es.«
»Und weshalb sind Sie dann jetzt hier, um es doch fertig zu schreiben?«, fragte sie.
»Das schien mir der beste Ort dafür zu sein«, sagte er. Er betrachtete sie neugierig. »Sie finden mich anscheinend auf einmal sehr interessant, wo Sie doch bisher kaum mit mir reden wollten.« Hannah lächelte und trank. Sie hatte ihr Bier schon halb geleert.
»Tja, ich bin eben zu dem Schluss gekommen, dass Sie nicht ganz verkehrt sein können. Dimity hat ein ziemlich gutes Gespür für so etwas, und Sie haben es geschafft, sich in ihr Wohnzimmer zu schwätzen. Vielleicht war ich ein bisschen …«
»Feindselig und unhöflich?« Er lächelte.
»Argwöhnisch Ihnen gegenüber. Aber wissen Sie, eine Menge Leute kommen und gehen hier. Machen Ur laub, haben ein Wochenendhäuschen oder ein Sommerhaus. Auch Leute, die auf Aubrey fixiert sind.« Sie warf Zach einen kurzen Blick zu. »Das ist schwer für die Menschen, die hier leben. Man investiert Zeit und Energie, um die Leute ken nenzulernen, heißt sie willkommen, und schon sind sie wieder auf und davon. Nach einer Weile spart man sich die Mühe lieber.«
»Dimity hat mir erzählt, dass Ihre Familie schon seit Generationen hier lebt.«
»Das stimmt. Meine Urgroßeltern haben den Hof um die Jahrhundertwende gekauft«, erklärte Hannah. »Und,
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