Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
aufzuheitern, und nach einer Weile stand sie auf, streckte die Arme über den Kopf und reckte sich. Dann ging sie zur Treppe und zauste Dimity im Vorbeigehen das Haar. »Mach diese Zauber fertig; ich muss mich ausruhen«, sagte sie. Erst als Valentina den Raum verlassen hatte, wagte Dimity die Asche von ihrem Arm zu pusten. Ihre Brust war noch immer so zugeschnürt, dass sie kaum genug Luft dafür hatte. Sie hielt den Unterarm ins Licht und sah, wie die Oberfläche der Blase schimmerte. Dann musste sie wieder warten und aufpassen, dass sie nicht zu laut weinte und ihre Mutter störte. Schließlich stand sie auf und machte sich auf die Suche nach Hamamelis-Tinktur für die Brandwunde.
»Und wie hat Ihre Mutter reagiert, als Aubrey herkam, um zu fragen, ob er Sie zeichnen durfte? Ich kann mir vorstellen, dass nicht jede Mutter von so einer Vorstellung begeistert wäre. Vor allem, da Sie ja erst, wie alt, vierzehn waren?« Der junge Mann ihr gegenüber redete und stellte immer neue Fragen. Er hatte so eine Art, sich vorzubeugen und dabei die Fingerspitzen zwischen den Knien aneinanderzulegen, die sie nervös machte. Zu begierig. Aber sein Gesicht war gleichbleibend freundlich. Ihr linker Arm juckte, und sie rieb ihn mit dem Daumen, fuhr kräftig über die schlaffe Haut, bis sie die Narbe fand, die hart daraus hervortrat. Ein kleiner Knubbel aus verhärtetem Gewebe in genau der Form und Größe der Blase, aus der er sich gebildet hatte. Sie hatte den Wundschorf immer wieder versehentlich abgekratzt und die Pflaster verloren, die Delphine daraufgeklebt hatte. Ich habe Leber gebraten, und das Fett hat gespritzt . Unter dem Schorf war die Wunde tief und von einem zor nigen Rot. Die Stille im Raum war durchdringend, und plötzlich spürte sie, dass mehr Ohren als nur die des jungen Mannes auf ihre Antwort warteten.
»Ach«, begann sie und musste innehalten, um sich zu räuspern. »Sie hat sich natürlich gefreut. Sie war durch aus eine kulturell interessierte Frau, meine Mutter. Und ein Freigeist. Sie hat nichts darauf gegeben, was im Dorf über Charles und seine Familie getuschelt wurde. Sie hat sich gefreut, dass ein so berühmter Künstler ihre Tochter zeichnen wollte.«
»Sie scheint eine recht liberale Frau gewesen zu sein …«
»Tja, wenn man selbst gewissermaßen eine Ausgestoßene ist, fühlt man mit anderen, die im selben Boot sitzen. So war das bei ihr.«
»Ja, ich verstehe. Sagen Sie, hat Charles Ihnen je eine seiner Zeichnungen von Ihnen geschenkt? Vielleicht zum Dank dafür, dass Sie für ihn posiert haben?«
»Posiert? O nein, posiert habe ich so gut wie nie. Solche Bilder wollte er nicht, jedenfalls normalerweise. Er hat immer nur beobachtet und geduldig abgewartet, und wenn für ihn alles stimmig war, hat er angefangen. Manchmal habe ich es gar nicht gemerkt. Manchmal schon. Hin und wieder hat er mich auch gebeten innezuhalten.« Mitzy, nicht bewegen. Bleib genau so, wie du bist.
Einmal war sie aufgestanden, um den Sonnenuntergang zu betrachten, und hatte sich ausgiebig gestreckt, nachdem sie zwei Stunden lang Erbsen enthülst hatte. Sie dachte gerade daran, dass sie nach Hause gehen sollte und wie wenig Lust sie dazu hatte. Nach Littlecombe mit der vielen Gesellschaft, dem Lachen und den sauberen Gerüchen kam ihr The Watch besonders dunkel, feucht und unbehaglich vor. Ihr eigenes Zuhause. Nicht bewegen, Mitzy. Also blieb sie eine halbe Stunde lang mit erhobenen Armen stehen, über dem Kopf gekreuzt, bis sie erst kribbelten, dann taub wurden und sich schließlich anfühlten, als seien sie aus Stein und gehörten gar nicht zu ihr. Doch sie rührte sich keinen Fingerbreit, bis sein Bleistift still wurde. Das kündigte immer das Ende an – eine Zeit lang bewegte sich seine Hand noch weiter, schweifte mit ausladenden Bewegungen über das Blatt, doch der Bleistift berührte es nicht mehr – er bewegte sich nur und inspizierte die Zeichnung wie ein drittes Auge. Irgendwann hielt dann auch seine Hand inne. Und jedes Mal überkam Dimity in diesen Augenblicken ein Gefühl, als kullerte etwas Kaltes durch ihren Bauch – das Gefühl, dass etwas Wunderbares aufhörte, und zugleich die Sehnsucht danach, es möge erneut beginnen. Damals hatte sie nicht die leiseste Ahnung gehabt, was noch kommen sollte. Sie hatte nicht gesehen, wie sich die Finsternis sammelte, sich nicht auf die Brutalität gefasst machen können, die dar in lauerte.
4
Zach saß vor seinem Laptop, umgeben von Notizzetteln, Un terlagen und
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