Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
was hat sie Ihnen noch von mir erzählt?« Zach zögerte ein wenig, ehe er antwortete.
»Dass Sie – vor einigen Jahren Ihren Mann verloren haben.« Er blickte kurz auf, doch ihr Gesichtsausdruck blieb ruhig und gelassen. »Und dass Sie sehr hart arbeiten, um den Hof zu erhalten.«
»Tja, da hat sie recht, weiß Gott.«
»Aber heute nicht?« Er lächelte, als sie ihr Glas leerte.
»Es gibt eben solche Tage, da laufen die Schafe einfach unbekümmert da draußen herum und grasen, die To-do- Liste ist einen halben Meter lang und die Kasse voller Spinn weben. Da kann man eigentlich gar nichts anderes tun, als sich schon mittags einen anzutrinken.« Sie stand auf und wies mit einem Nicken auf sein noch halb volles Glas Bier. »Noch eins?«
Während sie an die Bar ging, starrte Zach wieder die Bilder von Dennis an und wunderte sich über Hannah Brocks plötzliche Wandlung. Vielleicht war die Erklärung dafür tatsächlich so harmlos, wie sie vorgab – das hoffte er jedenfalls. Dennis. Drei junge Männer, alle einander sehr ähnlich, alle wirkten freundlich und strahlten eine Gutherzigkeit und Unschuld aus, die beinahe kindlich anmutete, als hätte der Künstler beweisen wollen, dass man hier einen Menschen vor sich hatte, der in seinem ganzen Leben noch nie einen gemeinen Gedanken gehabt hatte – der nie jemanden schikaniert oder die Schwächen anderer ausgenutzt hatte. Niemals selbstsüchtig oder hinterlistig gehandelt hatte, nie von Lust, Neid oder Geldgier getrieben worden war. Doch er kam nicht von dem Gefühl los, dass mit diesen Zeichnungen irgendetwas nicht stimmte. Jedes der drei Gesichter unterschied sich auf subtile, kaum merkliche Weise von den anderen beiden, sowohl was körperliche Merkmale als auch was den emotionalen Ausdruck anging. Als seien das drei verschiedene junge Männer, nicht ein und derselbe. Entweder drei verschiedene junge Männer namens Dennis, alle von Aubrey gezeichnet, oder dreimal derselbe junge Mann, aber nicht von Aubrey gezeichnet. Keine dieser Möglichkeiten erschien ihm einleuchtend. Verwirrt fuhr er sich mit beiden Händen durchs Haar und fragte sich, ob er allmählich den Verstand verlor. Offenbar hatte niemand sonst die geringsten Zweifel an der Authentizität der Bilder.
Zach schlug die Informationen vorne in der Christie’s-Broschüre nach. Verkauf in acht Tagen, der Besichtigungs termin war vorgestern gewesen. Er kannte jemanden aus der Abteilung für Bildende Kunst bei Christie’s – Paul Gibbons hatte mit ihm am Goldsmiths studiert. Ein weiterer Künstler, der lieber gar nicht erst versucht hatte, von seiner eigenen Kunst zu leben, und stattdessen die Werke anderer ver kaufte. Zach hatte Paul schon nach dem Verkäufer der jüngst aufgetauchten Aubrey-Bilder gefragt, doch der hatte ihm unmissverständlich erklärt, diesem sei strengste Anony mität zugesichert worden. Jetzt schrieb er Paul eine kurze E-Mail und erkundigte sich, ob es irgendwie möglich wäre, dass er sich mit den Leuten in Verbindung setzte, die eines der Dennis-Porträts gekauft hatten. Die Chancen standen nicht gut, das war ihm bewusst, aber die Werke mit eigenen Augen zu sehen würde ihn vielleicht weiterbringen.
»Wer ist das?«, fragte Hannah mit Blick auf den Katalog, als sie sich wieder setzte. Sie schob Zach ein weiteres Bier hin, obwohl er ihr Angebot abgelehnt hatte. »Trinken Sie«, sagte sie.
»Das ist das große Rätsel«, antwortete Zach und trank ein paar Schlucke aus seinem Glas. Sich mittags zu be trinken mit dieser harten, lebenssprühenden Frau, die nach Schafen roch, aber in einem roten Bikini schwimmen ging, schien ihm auf einmal gar kein so übler Plan zu sein. »Dennis. Kein Nachname, keine Erwähnung in Aubreys Briefen, auch nicht in den Büchern über ihn.«
»Ist das so wichtig?«
»Absolut. Aubrey war von seinen Motiven wie besessen. Er verliebte sich – in einen Ort, einen Menschen oder eine Idee – und malte und zeichnete dieses Ding oder diesen Menschen dann exzessiv, vollständig, bis er ihm alles abge wonnen hatte, was er herausholen konnte, im schöpferischen Sinne. Und dann …«
»… ließ er ihn fallen?«
»Ließ ihn hinter sich. Künstlerisch gesehen. Und während dieser Phasen völliger Faszination schrieb er in Briefen darüber, manchmal auch in seinen Notizbüchern. Das waren Briefe an Freunde, andere Künstler oder seinen Agenten. Hören Sie mal, was er über Dimity geschrieben hat – da fällt mir ein, dass ich ihr das zeigen sollte. Ich glaube, sie
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