Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
Lippen schürzte.
Dimity rupfte gerade zwei Tauben, als sie die Neuigkeit erfuhr, die sie auf keinen Fall hören wollte. Sie zupfte immer nur ein paar Federn auf einmal mit den Fingerspitzen aus, ganz langsam, damit sie nicht etwa fertig wurde, ehe Charles seine Zeichnung vollendet hatte. Sie saß ihm gegenüber im Schneidersitz, die toten Vögel auf dem Schoß. Obwohl sie sich das Haar zurückgebunden hatte, waren kleine Federn darin hängen geblieben, das wusste sie genau. Sie konnte eine sehen – am Rand ihres Gesichtsfelds hing über einer Augenbraue eine winzige graue Feder, die in der stillen Luft zitterte. Wenn sie zu der Feder aufsah, konnte sie auch verstohlen Charles betrachten. Anfangs fand sie die Intensität seines Blickes beängstigend. Manchmal schaute er so streng drein, dass sie einen Tadel erwartete. Doch allmählich wurde ihr klar, dass er gar nicht merkte, wie sie ihn beobachtete. Fasziniert betrachtete sie sein Gesicht. Eine tiefe Falte lag über seinem Nasenrücken, und als die Sonne gen Westen sank, warf diese Nase einen dunklen, spitzen Schatten auf seine Wange. Unter dem Knochen um sein Auge war die Wange ein wenig hohl und bildete eine fast senkrechte Linie zu seinem Kiefer, der länglich und kantig war. Da sie es ganz in Ruhe betrachten konnte, lernte sie sein Gesicht so gut kennen wie ihr eigenes, ja, sie kannte es vielleicht sogar besser als Delphines oder Valentinas Gesicht. Nur sehr selten war es akzeptabel oder überhaupt möglich, jemanden so lange anzustarren.
An jenem Tag fiel sie in eine Art Trance, denn die Sonne kroch langsam um sie herum, bis sie Charles’ rechtes Auge von der Seite beleuchtete und strahlende Braun- und Goldtöne in der Iris aufflammen ließ. Wie ein Juwel. Hinter ihm verschwamm die See zu einem silbrigen Streifen, und das kurze Gras, auf dem Dimity saß, war weich und federnd. Der Himmel glich einer riesigen Kuppel, und das kreidige Blau war mit Möwen gesprenkelt, wie Gänseblümchen auf einer Wiese. Dimitys Finger hielten inne, hörten zu zupfen auf, weil sie nicht wollte, dass die Erde sich weiterdrehte oder die Zeit fortschritt von diesem Augenblick. Es war warm und still, Charles’Topasaugen waren auf sie gerichtet, Delphine jätete hinter ihr in ihrem kleinen Gemüsegarten, und Celeste kochte mit Élodie – etwas, das Dimity nur als Hauch erschnuppern konnte, der zu ihr herübertrieb. Etwas Herzhaftes und Köstliches, wozu man sicher auch sie an den Tisch einladen würde.
Doch da irrte sie sich. Sie bekam ein Stück davon mit nach Hause, und die zwei Shilling für Valentina – ihr Honorar fürs Modellsitzen. Celeste kam mit dem Stück Pastete, in festes braunes Papier gewickelt, aus dem Haus. Sie trug wieder eines ihrer langen Kleider, cremefarben mit langen, weit schwingenden Ärmeln, an der Taille mit einer geflochtenen Kordel gegürtet. Sie bedachte Dimity mit ihrem breiten, bezaubernden Lächeln, und dann machte sie alles kaputt.
»Es wird Zeit für dich, nach Hause zu gehen, Mitzy.« Sie trat hinter Charles, rieb seine Schulter leicht mit einer Hand und ließ sie dort ruhen. Dimity blinzelte.
»Darf … Darf ich denn nicht zum Abendessen bleiben?«, fragte sie. Charles hob die Hand und rieb sich die Augen, als erwachte auch er aus einem Traum. Wie vollkommen dieser traumhafte Augenblick gewesen war, dachte Dimity traurig. Einfach vollkommen.
»Nun, wir kehren morgen nach London zurück, deshalb sollte heute die Familie zusammen essen, nur wir vier. An unserem letzten Abend.« Celestes Lächeln erlosch, als Dimitys Gesicht einen kummervollen Ausdruck annahm.
»Sie reisen ab? Morgen?«, fragte sie. Die Familie. Nur wir vier. »Aber das will ich nicht«, stieß sie hervor, lauter und heftiger, als sie beabsichtigt hatte. Sie holte tief Luft, und ihre Brust schmerzte.
»Tja, es geht nicht anders. Die Mädchen müssen bald wieder in die Schule. Delphine! Komm und verabschiede dich von Mitzy!«, rief Celeste ihrer ältesten Tochter zu. Die stand auf, wischte sich die Hände am Hosenboden ab und kam zu ihnen herüber. Steif rappelte Dimity sich auf. Zum ersten Mal seit Wochen war sie wieder unsicher, wie sie sich benehmen sollte. Sie konnte nicht zu ihnen aufblicken, sondern starrte auf das Gras hinab und sah, dass es mit Kaninchenkötteln übersät war.
»Kann sie denn nicht zum Essen bleiben? Das ist schließ lich unser letzter Abend«, sagte Delphine und blickte zu ihrer Mutter auf.
»Ich fürchte, nein, eben weil es der letzte Abend ist.
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