Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
würden dir die Eier blitzschnell hoch in den Bauch schießen«, erklärte sie düster, dann grinste sie. »Darüber muss ich mir ja zum Glück keine Sorgen machen.« Sie lachten.
»Hannah, hast du bei Dimity im Haus jemals noch irgendjemand anderen gesehen? Ich habe so seltsame Geräusche aus dem oberen Stock gehört«, sagte Zach. Ihr Lachen verstummte so abrupt, als sei sie gegen eine Wand geprallt. Einen Moment lang starrte sie in ihr Glas, und Zach ging im Geiste seine letzten Worte noch einmal durch und überlegte, was er Falsches gesagt haben könnte.
»Nein. Nein, soweit ich weiß, geht niemand sonst je dort hin«, antwortete Hannah. Eine unbehagliche Pause entstand, dann erhob sie sich etwas wackelig. »Ich muss jetzt wirklich los. Noch viel zu tun, weißt du? Auf dem Hof.«
»Was kannst du denn nach diesen ganzen Bieren noch tun? Bleib sitzen, trink wenigstens dieses noch aus. Wir müssen ja nicht mehr über …« Doch er verstummte, denn Hannah wandte sich zum Gehen. Sie schaute zu ihm zurück, und ihre feinen Züge wirkten auf einmal ernst und nüchtern. Ihr Blick war scharf, nicht im Geringsten benebelt, und Zach kam sich vor wie ein Idiot.
»Komm doch irgendwann mal vorbei, wenn du möchtest. Dann zeige ich dir den Hof. Falls du Interesse hast.« Sie zuckte mit einer Schulter, ging davon und ließ Zach mit ihrem halb getrunkenen Bier und dem leeren Stuhl zurück. Ihn überkam das plötzliche, unerwartete Gefühl, etwas verloren zu haben. Pete trat an den Tisch und sammelte die leeren Gläser ein.
»Sie sind ein bisschen grün um die Nase.« Pete schüttelte mitleidig den Kopf. »Man sollte nie versuchen, Hannah Brock unter den Tisch zu trinken. Was haben Sie denn zu ihr gesagt, dass sie so davongestürmt ist? Wenn sie erst mal zwei Bier intus hat, bleibt sie normalerweise bis zur Sperrstunde.«
»Keine Ahnung. Ich weiß es wirklich nicht«, antwortete Zach ratlos.
Etwas hatte sich Dimity um die Kehle geschlungen, sie fest gepackt, und ausnahmsweise war es nicht Valentina. In der Nacht hatte sie von dem Tag geträumt, an dem Charles Aubrey und seine Familie abgereist waren, am Ende jenes ersten Sommers. Sie hatte ja gewusst, dass sie wieder fortgehen würden, Delphine hatte es ihr gesagt. Dennoch war sie nicht darauf vorbereitet. Sie hatte sich ausgemalt, mit ihnen zum Erntedankfest zu gehen, das nach dem Gottesdienst auf dem Dorfanger gefeiert wurde – mit einer Kapelle, Girlanden und Wimpeln, Liedern und Spielen. Und Apfelkuchen, die einfach himmlisch dufteten. Wilf Coulson hatte ihr im vergangenen Jahr ein Stück geholt und es zu ihrem Versteck hinter einem Zelt gebracht, wo sie in den aufregenden, berauschenden Duft von Segeltuch eingehüllt saß – ein Geruch nach etwas Fremdem, Spannendem, den es nur einmal im Jahr gab. Dimity hatte sich schon im mer danach gesehnt, auf dem Festplatz herumschlendern zu kön nen wie alle anderen. Sich einen Hopfenkranz zu kaufen und all die Spiele zu spielen – Kegeln, Rattenschlagen, Dosenwerfen –, statt nur von einem Versteck aus zuzusehen.
Valentina ging nie zum Erntefest, sie rümpfte verächtlich die Nase darüber. »Ich habe keine Lust, denen beim Spielen und Karussellfahren zuzuschauen, als wären sie alle so gut und brav.« Jedes Jahr musste Dimity sich ein Tablett an einer Schnur um den Hals hängen, damit herumgehen und Sträuß chen, Glücksbringer und Tinkturen verkaufen: Valentinas berühmten Zigeunerinnen-Balsam, der garantiert das Altern verzögerte – eine klebrige Mischung aus Schmalz und kühlender Creme mit dem Duft von Holunderblüten und Ampferwurzelsud für die verjüngende Wirkung. Oder ihren Roma-Balsam, ein Geheimrezept aus dem Fett einer Schweineniere, Hornraspeln von Pferdehufen, Hauswurz und Holunderrinde – half gegen Hautleiden aller Art, Geschwüre und Blutergüsse. Die Dorfkinder liefen ihr nach, verspotteten sie und bewarfen sie mit Mistklumpen, denn sie wussten sehr wohl, dass Dimity nicht weglaufen oder sich wehren konnte mit dem schweren Tablett vor dem Bauch. Doch die Aubreys hatten keine Angst vor den Be wohnern von Blacknowle, obwohl die Leute flüsterten, Celeste sei seine Geliebte, nicht seine Frau, und ein wenig entrüstet taten. Trotzdem akzeptierten sie die Aubreys und waren höflich zu ihnen. Sie konnten gar nicht anders. Charles war einfach zu charmant und Celeste viel zu schön, und ihre Töchter waren so glücklich und geborgen, dass sie nicht einmal bemerkten, wie die Frau des Wirts missbilligend die
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