Das verborgene Netz
gesaugt.«
Louise dachte an Eberhardt Rohwes Vermutung. Gesaugt, gesäubert – Profis. »Hatten Sie Angst?«
»Ja.«
»Warum haben Sie niemanden informiert? Das Hotelpersonal, die Polizei?«
Esther Graf zuckte die Achseln. »Ich wollte mich nicht einmischen. Ich wusste ja gar nicht, was passiert war.«
»Wissen Sie es inzwischen?«
»Nein, ich … nicht genau. Ein Mann wurde zusammengeschlagen, oder?«
»So könnte man’s auch nennen.«
»Wie nennen Sie es denn?«
»Versuchte Tötung.«
»Versuchte … « Esther Graf brach ab.
»Ist Ihnen sonst etwas aufgefallen? Vorher, nachher?«
»Nein.«
Nichts gesehen, kaum etwas gehört. Louise glaubte Esther Graf, und das passte ihr nicht.
Sie stand auf, ging zum Esstisch, lehnte sich daran. Die verstellten Wände, die niedrige Decke lagen wie eine geschlossene Hülle um den Raum, der ihr fast wie ein Kerker vorkam.
Esther Graf schien sich in dem Kerker wohlzufühlen.
»Hat Sie der Tumult im Flur geweckt?«
Esther Graf war sich nicht sicher. Da sei, sagte sie, auch ein dumpfes Klopfen oder Hämmern gewesen, im Zimmer nebenan. Das habe sie wohl geweckt.
»Ein Klopfen oder Hämmern?«
»Als würde jemand einen Nagel in die Wand schlagen.«
»In einem vermieteten Hotelzimmer?«
Ein vages Achselzucken.
»Die Wand zwischen Ihrem Zimmer und dem daneben?«
»Ja.«
Louise rief sich den Anblick der 35 in Erinnerung. Keine verputzte Wand, sondern eine Holztäfelung. »Jemand schlägt gegen die Wand, Sie wachen auf, dann beginnt der Tumult im Flur?«
Esther Graf nickte. Zwei Schläge, dann ein paar Sekunden Stille, bevor die Tür nebenan aufging und … Erneut das Achselzucken.
Louise runzelte die Stirn. Ihr Blick fiel auf den Teller mit den Pizzarandstücken. Sie deutete darauf. »Darf ich?«
Überrascht hob Esther Graf die Augenbrauen.
»Hunger«, sagte Louise und lächelte.
Mit dem Teller kehrte sie zum Tisch zurück. Während sie die kalten Teigreste aß, stellte sie weitere Fragen, erst ein paar harmlose, auf die Esther Graf zögernd antwortete. Kein Mann, keine Kinder, sie lebte allein. Keine Beziehung im Moment, nein, dafür blieb einfach keine Zeit. Kaufmännische Ausbildung, seit sechs Jahren angestellt bei der GoSolar AG , einer Firma aus der Solarbranche, Assistentin eines Abteilungsleiters im Bereich Research & Development.
»In Haid?«
»Was ich nicht … Ja, in Haid. Was ich nicht verstehe, ist … Sie tun fast so, als hätte das Ganze mit mir zu tun. Das, was in Berlin passiert ist.«
Louise stellte den leeren Teller auf den Tisch und fuhr sich mit dem Ärmel des Pullovers über die Lippen. Grafs Stimme und Miene hatten sich kaum merklich verändert, wirkten angespannt. Irritiert nahm sie zur Kenntnis, dass diese Veränderung nicht ihr Misstrauen geweckt hatte, sondern ihr Mitgefühl. »Wäre das möglich?«
»Ich wüsste nicht, wie. Ich meine, ich … « Graf brach ab. Wieder sah sie auf die Fernbedienung hinunter, dann legte sie sie vorsichtig auf den Tisch. Ihre Hand zitterte.
»Der Mann, den wir suchen, der Tatverdächtige, hat im Zimmer neben Ihnen gewohnt, weil er dieses Zimmer verlangt hat. Er war kein Stammgast. Wir müssen in Erwägung ziehen, dass er Sie kennt.«
Esther Graf sah auf. »Unmöglich!«
Louise nannte den falschen Namen, Friedrich Müller, Dortmund. Graf kannte ihn nicht.
»Wer wusste, dass Sie nach Berlin fahren?«
»Mein Chef und ein paar Kollegen.«
»Und warum waren Sie in Berlin?«
Esther Graf lehnte sich zurück, starrte Louise mit großen Augen an. Sie schluckte, schüttelte den Kopf.
Dann kamen die Tränen.
Louise hatte sich aufs Sofa gesetzt, eine Hand auf Esther Grafs Schulter gelegt, mehr wäre ihr aufdringlich vorgekommen, doch die Hand musste sein, und sie schien auch nicht zu stören. Eine Viertelstunde verging, ohne dass ein Wort fiel. Louise fragte nicht nach, und Esther Graf hatte
offenbar nicht das Bedürfnis, sich mitzuteilen. Sie weinte lautlos, schnäuzte sich hin und wieder, trocknete sich die Wangen ab. Irgendwann räusperte sie sich und sagte, sie habe Termine in der psychologischen Abteilung der Charité gehabt. Louise nickte, obwohl sie nicht ganz verstand, weshalb man achthundert Kilometer weit flog, um psychologische Beratung zu bekommen – mehr Psychologen pro Quadratmeter als in Freiburg fand man vermutlich auf der ganzen Welt nicht.
Graf schien ihre Verwunderung zu bemerken. Ihr Hausarzt, sagte sie, habe einen Schwager in der Charité, der eine Koryphäe sei.
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