Das verborgene Netz
Außerdem hätte sie Angst gehabt, in Freiburg von jemandem gesehen zu werden, der sie kenne. Von einem Bekannten, einem Kollegen. Sie hätte Angst gehabt, Schwierigkeiten zu bekommen.
»Schwierigkeiten? In der Firma?«
»In der Firma, mit meinem Vermieter, in der Bank. Wenn ich einmal einen Kredit brauche, und die wissen, dass ich … « Sie brach ab.
»Dass Sie was?«
»Dass ich Probleme habe.«
»Was für Probleme?«
Graf zuckte die Achseln.
»Depressionen?«
Keine Antwort, und auch Louise schwieg. Sie verstand die Angst vor Schwierigkeiten, zumindest was die Firma betraf. Sie hatte ja Ähnliches erlebt.
»Und dann das Gerede … «
»Wie geht es jetzt weiter? Sie können nicht jede Woche nach Berlin fliegen.«
»Nein.«
»Was werden Sie tun?«
»Das … weiß ich noch nicht.«
»Was hat Ihnen der Arzt geraten? Der in der Charité?«
Erneut antwortete Esther Graf nicht.
»Stationäre Therapie?«
»Ich … Sie haben mir eine Einrichtung im Schwarzwald empfohlen.«
Sag’s nicht, dachte Louise.
»Die Oberberg-Klinik«, sagte Esther Graf.
Kurz darauf erhob Louise sich, um zu gehen. Esther Graf war an diesem Abend weder in der Lage noch willens, weitere Fragen zu beantworten. Apathisch saß sie auf dem Sofa, machte keine Anstalten, sie zur Tür zu begleiten. Sie weinte nicht mehr, aber irgendein Dämon hatte sie fest im Griff.
Louise hasste Momente wie diesen, in denen die Kluft zwischen beruflicher Notwendigkeit und menschlichem Anstand so offensichtlich wurde. Wollte sie mehr erfahren, musste sie Graf bedrängen. Bedrängte sie Graf, schubste sie sie in einen Abgrund. Wie sie es auch drehte und wendete, sie trug Verantwortung.
»Kann ich Sie jetzt allein lassen?«
»Ja«, sagte Esther Graf und stand nun doch auf.
Im Flur schlüpfte Louise in den Anorak. »Haben Sie irgendeine Vorstellung, wer der Mann in Zimmer 35 gewesen sein könnte?«
Graf schüttelte den Kopf. Sie lehnte an der Wand, hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Die Augen waren jetzt klein, verschwanden fast in den schwarzen Höhlen.
»Jemand aus Ihrer Firma? Ein Exfreund, der Sie nicht vergessen kann?«
»Ich … weiß es doch nicht.«
»Werden Sie bedroht?«
»Aber nein … « Graf hob das Taschentuch, presste es gegen die Nase. In ihren Augen standen wieder Tränen.
»Ich kann Sie nicht schonen«, sagte Louise. »Ich würde es gern, aber ich kann nicht. Ich muss wissen, was in Berlin geschehen ist. Warum es geschehen ist.«
Graf sagte nichts, doch ihre Miene war Antwort genug – bitte gehen Sie, und kommen Sie nie wieder.
»Ich kann nicht«, sagte Louise und trat in den Regen hinaus.
Minutenlang saß sie im Auto, blickte auf die hellen Fenster der kleinen Häuser, die sich bis ins Zentrum von Littenweiler den Hang hinunterzogen. Hin und wieder glitten Schatten durchs Licht, wurde es irgendwo dunkel und irgendwo hell. Auf der Straße drei Menschen und ein Hund, in einem Auto ein Pärchen, die Köpfe dicht aneinander. Jahrelang war sie froh gewesen, nicht mehr Teil einer wie auch immer gearteten Gemeinschaft zu sein, in der ihre Autonomie gefährdet wäre und Abhängigkeiten drohten. Doch seit Ben in Freiburg lebte, fiel ihr das Alleinsein immer schwerer. Einer der vielen Widerstände in ihr war zusammengebrochen, ein Stimmchen winselte im Stundentakt
ruf ihn an / zieh mit ihm zusammen / heirate ihn
und ähnlichen Quatsch. Die Seele war ein unerschöpfliches Reservoir an immer neuen Sentimentalitäten.
Wer hätte das gedacht? Das Leben wurde mit zunehmendem Alter nicht einfacher, sondern schwieriger.
Mechanisch warf sie einen Blick aufs Handy. Noch immer keine Nachricht aus Sarajewo.
Ruf ihn an
, winselte das Stimmchen. Halt’s Maul, dachte Louise.
Esther Graf hatte ihr, davon war sie überzeugt, Informationen
vorenthalten, ob nun absichtlich oder unabsichtlich. Informationen, die vielleicht erklären würden, weshalb sie, Steinhoff und der Unbekannte am selben Samstagnachmittag im selben Hotel gewesen waren.
Die logische Kette war brüchig, aber sie schien nur in eine Richtung zu weisen. Der Unbekannte, der kein anderes Zimmer gewollt hatte als das neben Esther Graf. Hans Peter Steinhoff, der nicht im Hotel gewohnt hatte und doch in den dritten Stock gegangen war. Der tätliche Angriff, der vielleicht versuchte Tötung gewesen und später als Diebstahl getarnt worden war. Der Mittäter, der Zimmer 35 gesäubert hatte.
Hatten die beiden Täter auf Steinhoff gewartet? War Esther Graf eine Art
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