Das verborgene Netz
Walther P 5 .
Die Pistole, die der Unbekannte in Berlin getragen hatte.
Sie schaute den Mann hinter Marc an, rief sich Steinhoffs Beschreibung in Erinnerung. Etwa eins fünfundachtzig groß, zwischen dreißig und vierzig Jahre alt, kräftig. Was sie sah, passte.
Sein Blick lag auf ihr, während er vorbeiging. Dunkle, ausdrucksstarke Augen, die ihr das Gefühl vermittelten, dass er sie erkannt hatte.
Wanzen und Kameras …
»Wir müssen reden«, sagte sie. »Sie wissen, wer ich bin. Rufen Sie mich an.«
Der Mann reagierte nicht.
Dann hatten Marc und er die Treppe erreicht, stiegen hinunter, gefolgt von den beiden anderen. Unten auf der Straße wandten sie sich in Richtung Wald. Die zwei Männer mit den Rucksäcken liefen jetzt voraus, Marc und der dritte kamen langsamer nach, als bliebe alle Zeit der Welt.
Nur Sekunden, nachdem die Gruppe zwischen den Bäumen verschwunden war, raste der erste MEK -Wagen in die Kurve.
Kilian berührte ihren Arm. »Ich muss ihnen nach.«
»Sie tun ihm nichts.«
»Und Steinhoff?«
Sie wischte sich den Angstschweiß von Stirn und Wangen.
»Bei Steinhoff muss es einen Grund gegeben haben. Bei Marc gibt es keinen.«
»Er hat ihre Gesichter gesehen, vielleicht was gehört. Ich bin für ihn verantwortlich, Louise.«
»Und ich bin für dich verantwortlich. Du bleibst hier.«
Auf der Straße unter ihnen stiegen die ersten MEKler aus den Autos. Sie trugen Schutzwesten. Kofferräume wurden geöffnet, Visierhelme und Maschinenpistolen ausgegeben.
»Pass auf, dass keiner ins Haus geht«, sagte sie und lief die Treppe hinunter.
Der Kommandoführer kam ihr entgegen. »Bist du Bonì?«
»Ja.«
»Ihr habt eine Geiselnahme?«
»Nicht mehr.« Sie berichtete kurz.
»Du willst sie laufen lassen?«
»Nur für heute.«
Sie kehrte zu Brager zurück, der oben am Treppenabsatz wartete. Er hielt ein Taschentuch in der Hand, wischte sich Gesicht und Kopf trocken. Schweigend sah sie ihm zu. Sie spürte, dass er am Ende seiner Kräfte war, nicht nur in dieser Nacht, sondern grundsätzlich. Er hatte lange gekämpft, jetzt war die Energie aufgezehrt.
»Du brauchst mal eine Pause, Brager.«
Er ging nicht darauf ein. »Tut mir leid, das mit dem Kollegen.«
»Danke.«
Sie bat ihn, vier seiner Schutzpolizisten beim Haus zu lassen, mehr brauchte sie nicht. Keine Straßensperren, keine Fahndung, solange Marc nicht in Sicherheit war.
Brager nickte und sagte etwas. Sie hob die Hände an
die Ohren. »Ich hab da so ein Geräusch im Kopf und hör gerade schlecht.«
Er rang sich ein Lächeln ab. »Wir brauchen beide eine Pause.«
»Ja.«
»Ich soll dir was ausrichten.«
»Von wem?«
»Kilian.«
Sie wandte sich dem Haus zu. Bragers Schutzpolizisten standen wartend auf dem gepflasterten Weg, Kilian war nicht zu sehen.
Unten auf der Straße wäre er an ihr vorbeigekommen. Er musste von hier oben aus in den Wald gelaufen sein. In zehn Metern Entfernung stand ein niedriger Holzzaun, dahinter, schon in der Dunkelheit, lag ein Streifen Wiese, dann begann ein Dickicht aus Bäumen und Gebüsch.
Sie blickte Brager wieder an. »Und zwar?«
»Ruft ihn nicht an. Er meldet sich.«
Sie hatte mit Wut gerechnet, stattdessen fühlte sie sich nur erschöpft und alt. Vor einem Jahr noch, dachte sie, wäre sie Kilian nachgelaufen, hätte vielleicht sogar selbst darauf bestanden, den Geiselnehmern zu folgen. Beides kam in ihrem Zustand nicht in Frage.
Blieb nur die Hoffnung, dass Kilian sich mit der Beobachtung begnügte und nicht versuchen würde, Marc zu befreien.
»Also dann, Louise«, sagte Brager und reichte ihr die Hand. »Bis zum nächsten Mal.«
»Alles Gute, Helm.«
Sie sprach mit den verbliebenen Streifenbesatzungen, umrundete das Haus, während sie versuchte, einen Gedanken zu greifen, der im Dickicht der Erschöpfung hängen
geblieben war. Die Kameras, die Wanzen, fünf, höchstens zehn Minuten … Sie trat zu dem Zaun am Abhang zur Straße, sah auf die Häuser hinunter.
Falls der Schutzengel nach Esthers Suizidversuch zu Fuß gekommen war, musste er sich in der Nähe aufgehalten haben. Wie viele Meter legte man in fünf Minuten zurück? Vierhundert, wenn man ging. Eintausendfünfhundert, wenn man rannte?
Ein Versteck im Umkreis von eineinhalb Kilometern.
Als sie im Wagen saß, dachte sie, dass die Erschöpfung und das Alter keine Rolle spielten. Sie hatte das Gefühl der Unverletzbarkeit, das sie durch all die Jahre getragen hatte, verloren, genau wie das Bewusstsein darüber, was
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