Das verborgene Netz
richtig und was falsch war.
Sie ließ den Motor an, gab Gas.
Esther hatte in dieser Nacht auch deshalb keinen anderen Ausweg als Suizid gesehen, weil Louise sie unter Druck gesetzt hatte. Nur darum ging es. Sie hatte sich zum zweiten Mal in ihrem Leben schuldig gemacht.
II Das Netz
9
DIE BESPRECHUNG BEGANN um acht Uhr morgens bei strahlend blauem Himmel. Die Atmosphäre im Allerheiligsten war entspannt, zumindest soweit Louise das beurteilen konnte. Sie hatte kaum zwei Stunden geschlafen und bekam nur jedes dritte Wort mit. Eines dieser Wörter war »Fußballweltmeisterschaft«, ein anderes »Koalitionsverhandlungen«, auch über eine auf Fiji entdeckte, bislang unbekannte Korallenbarschart und die eleganten Ledersofas, auf denen sie einander gegenübersaßen, wurde gesprochen.
Die Vorzimmerdame hatte Tee und Gebäck serviert. Reinhard Graeve bestritt die Unterhaltung zusammen mit Henning Ziller, dem Leiter der Abteilung 4 des Landesamtes für Verfassungsschutz in Stuttgart. Außerdem waren Rolf Bermann, der als Letzter eingetroffen war, und die beiden ebenfalls übernächtigt wirkenden LfV-Kollegen anwesend, die Esther Grafs Haus observiert hatten, Antje Harth und Michael Bredik.
Als die Sitzgarnitur abgehandelt war, herrschte Schweigen.
»Dieser Tee ...«, sagte Henning Ziller dann. Seine Miene spiegelte Verzückung wider. An seinem linken Handgelenk saß wie ein schläfriges Insekt eine Pilotenuhr, deren silbernes Metallband farblich exakt zu seiner rechteckigen Brille passte. Wenn er die Hand bewegte, klickten die Uhrbandglieder. Die getönten Haare ließen Ziller wie vierzig
erscheinen, aufgrund seiner Position musste er jedoch mindestens fünfzig sein.
»Ostfriesisch«, sagte Reinhard Graeve.
»Einfach hervorragend. Rettet mir den Tag.«
»Danke.«
»Normalerweise tun das meine Söhne, wenn wir morgens beim Frühstück zusammensitzen. Eine halbe Stunde, die mich für den Rest des Tages mit Freude erfüllt.«
»Wie alt sind sie?«
»Peter ist fünf, Moritz drei.«
Wieder herrschte für einen Moment Stille. Alle außer Louise und Ziller schienen nachzurechnen, in welchem Alter der hohe Herr zum ersten Mal Vater geworden war.
Sie wurde allmählich unruhig. Der Smalltalk wollte kein Ende nehmen.
Natürlich, bei einem Krisentreffen von Kripo Freiburg und LfV Stuttgart ging es auch um Politik – um Macht, Zuständigkeit, Außendarstellung, Schuldzuweisung. Ein dichtes Gestrüpp aus Interessen, durch das man sich erst einmal einen Pfad schlagen musste, bevor man das eigentliche Thema ansprechen konnte. Sie müssen Geduld haben, hatte Reinhard Graeve gesagt, als sie sich um halb acht zum Vorgespräch getroffen hatten. Wecken Sie mich, wenn ich einschlafe, hatte Louise erwidert.
Antworten
und
Kooperation
hatten sie als Ziele der Zusammenkunft festgelegt.
Aber erst kam die Politik.
Sie warf einen Blick auf Zillers Uhr, dreißig Minuten waren vergangen. Immerhin halfen der Tee und das Geplänkel gegen den Summton in ihren Ohren, der leiser geworden war. Und sie halfen ihr, nicht an Esther zu denken. An Marc, der noch immer verschwunden war, an Kilian,
der um halb fünf ein
Bin o. k.
gesimst und sich seitdem nicht mehr gemeldet hatte. Seit vier lief die Handy-Ortung durch das Führungs- und Lagezentrum. Die SMS war im Unteren Kapplerwald abgeschickt worden, kaum zwei Kilometer von Esthers Haus entfernt. Kilian hatte das Telefon unmittelbar davor eingeschaltet und unmittelbar danach ausgeschaltet. Wenigstens dachte er mit – wer in der Lage war, eine professionelle Telekommunikationsüberwachung durchzuführen, verfügte möglicherweise auch über Peilungsgeräte.
»Kinder zu haben ist wunderbar«, fuhr Henning Ziller lächelnd fort. »Man lernt, die Welt entspannter zu betrachten. Nachzudenken, bevor man etwas sagt oder tut, weil man an den Gesichtchen so unmittelbar die Wirkung ablesen kann. Geht Ihnen das nicht genauso, Kollege Graeve?«
»Ja.«
»Der Kollege Bermann hat auch Kinder, nicht wahr? Wie viele waren es noch gleich?«
»Hilf mir, Louise.« Bermann kratzte sich den Schnauzer.
»Fünf«, sagte Louise.
»Fünf«, sagte Bermann.
»Fünf!« Ziller strahlte. »Sie müssen ein s
ehr
nachdenklicher Mensch sein.«
»Nein«, sagte Bermann.
Louise fragte sich, woher die Veränderung der Atmosphäre rühren mochte. Graeve wirkte mit einem Mal wachsam, Bermann machte sich lustig, als vermuteten beide hinter Zillers Worten eine Absicht, die ihr entgangen war.
»Das ist für mich bei
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