Das verborgene Netz
sie.
»Wenn ihm was passiert ist … «
»Quatsch!«
Sie stieß die Tür auf, sprang ins Freie. Wieder ließ der Quader einen Satz Kilians nicht durch. »Red lauter, verflucht!«
»Steinhoff!«, schrie er.
Sie wusste, was er meinte. Steinhoff war brutal zusammengeschlagen worden und lebte vielleicht nur noch, weil ihm irgendein glücklicher Zufall zu Hilfe gekommen war. Weshalb sollten sie mit Marc anders verfahren?
Sie schüttelte den Kopf, nicht dran denken, Kilian …
Ihr Handy klingelte, der Kollege vom FLZ . Das MEK war unterwegs, Bermann dagegen nicht erreichbar, unter keiner seiner Nummern. »Scheiße!«, schrie sie und steckte das Handy weg. Mit dem Adrenalin raste blanke Angst durch ihre Blutbahnen. Nur nicht zusammenklappen jetzt, nicht an Esther und Marc denken, nicht daran, dass sie Verantwortung trug für das, was geschah, Dass ein Schlückchen, ein Gläschen, ein Fläschchen diese Last erträglich machen könnte. Denk daran, dass es ein Leben außerhalb des Dienstes gibt, einen kleinen Bruder, Ben, denk daran, dass Liebe etwas Wunderbares ist, man muss es nur richtig anstellen, dann wird sie schön und handlich …
Aber das ging nicht, an Germain oder Ben denken, sie hatte Esther Graf vor Augen, in einer mit rotem Wasser gefüllten Badewanne, und Marc, auf der Flucht vor zwei Schatten.
8
IM AUTO WURDE ES BESSER . Die Konzentration auf das Fahren vertrieb die Bilder vor ihrem inneren Auge, und der Motor übertönte das Geräusch in ihrem Kopf. Aber sie spürte das Gewicht, da lag etwas quer, von Ohr zu Ohr.
Kilian versuchte es erneut bei Marc, bekam nur das Freizeichen. Sie diktierte eine SMS :
Sind gleich da, melde dich
.
Keine Antwort.
Auf der Schwarzwaldstraße wurden sie von einem halben Dutzend Streifenwagen mit Martinshorn und Blaulicht überholt. Louise beschleunigte und hielt das Tempo des Konvois. Kilian rief den Einsatzleiter an, auf seine Bitte hin wurden die Martinshörner abgestellt.
Sie rasten durch Littenweiler.
»Scheiße, ausgeschaltet«, sagte Kilian und legte das Handy in den Schoß.
Die Straße zu Esthers Haus war menschenleer. Sie passierten das Auto, mit dem Kilian und Marc am späten Nachmittag gekommen waren. Der Wagen der Stuttgarter war fort.
Im Haus brannte kein Licht.
Zusammen mit den Streifenbesatzungen eilten sie zum Wagen des Einsatzleiters, eines alten Bekannten vom Revier-Süd: Helm Brager, der vor zwei Jahren auch den Einsatz in Merzhausen befehligt hatte. Louise reichte ihm die Hand.
»Dein Fall?«, fragte Brager.
»Ist nicht so ganz klar. Der Verfassungsschutz hängt mit drin.«
Brager legte die Stirn in Falten, sagte jedoch nichts.
Sie wusste nicht viel über ihn, nur dass er seit langem gegen eine Krebserkrankung ankämpfte. Wie im November 2003 sah man ihm den Kampf an – das Gesicht eingefallen und vollkommen ohne Behaarung, auf Stirn und Wangen stand Schweiß. Auch an die in den Winkeln zusammengekniffenen Augen erinnerte sie sich. Seine Stimme kam ihr leiser vor als damals.
Sie informierte ihn über die Lage: drei Personen, vermutlich bewaffnet, ein Kollege vom D 24 , vielleicht als Geisel, die Situation unklar. Um 3 Uhr 11 hatten sie zum letzten Mal mit dem Kollegen gesprochen, also vor neunzehn Minuten. Was seitdem geschehen war, wussten sie nicht.
»Was für Typen sind das?«, fragte Brager.
»Keine Ahnung. Auf jeden Fall Profis.«
»Vom Verfassungsschutz?«
»Glaube ich nicht.«
Brager öffnete den Mund, ohne etwas zu sagen. Seine Augen wurden klein, und er schien den Atem anzuhalten. Im hektischen Widerschein der Blaulichter wirkten seine knochigen Züge, als wäre alles Leben aus ihnen gewichen.
»Bist du okay?«, fragte sie leise.
Er nickte. »Gehen wir rauf.«
»Wir sichern das Gelände, dann warten wir auf das MEK .«
Louise stand mit Kilian und Brager im Schutz eines kleinen Holzschuppens am Ende der Treppe, etwa fünfzehn Meter von der Eingangstür entfernt. Sie rechnete nicht mit einem
Schusswechsel, wollte aber nichts riskieren. Zwei uniformierte Kollegen durchstreiften die nähere Umgebung auf der Suche nach Marc, dessen Telefon nach wie vor ausgeschaltet war. Die übrigen hatten sich weiträumig um das Haus verteilt.
Hinter den Fenstern regte sich nichts.
»Da ist keiner drin«, sagte Brager.
Sie dachte an den Unbekannten, der kam und ging, ohne dass er bemerkt wurde. Der da war, ohne dass man ihn sah.
3 Uhr 35 . Das MEK musste jeden Moment eintreffen. Sie warf einen Blick auf die Straße, den Hang hinunter.
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