Das verborgene Netz
Diele.
Sie zwang sich, tief durchzuatmen.
»Sprechen Sie mit Esther Graf«, sagte Willert leise. »Eine der Assistentinnen des Abteilungsleiters.«
»Weshalb?«
»Louise«, sagte Bermann drängend.
» Warte. Was ist mit Esther Graf?«
Willert hatte sie an einem späten Abend Ende Juni im Kopierraum gesehen, ohne dass sie ihn bemerkt hatte. Ein Blatt war zu Boden gefallen, sie hob es fast in Panik auf,
und das machte ihn stutzig. Also beobachtete er sie eine Weile. Sie fertigte in großer Eile und eindeutig nervös von einer Vorlage zwei Kopien an. Eine davon ordnete sie in einen Schnellhefter ein und legte sie im Büro des Abteilungsleiters in den Safe. Was mit der anderen geschah, fand er nie heraus – seine Frau rief an, und nachdem das Telefonat beendet war, hatte Esther Graf die Firma schon verlassen.
» Wissen Sie, was sie kopiert hat?«
»Nein.«
Bermann öffnete die Wohnungstür. »Das können wir auch später klären, komm endlich.«
»Haben Sie jemandem davon erzählt?«
»Pete Monaghan, dem Abteilungsleiter, am nächsten Morgen.«
»Und?«
Monaghan und Willert hatten im Safe nachgesehen und ein Dutzend fast identisch aussehende Schnellhefter gefunden, die Esther Graf vorbereitet und nach Ziffern auf dem Deckblatt geordnet hatte – Skripte für Reden, die Monaghan halten musste, Protokolle von Sitzungen, technische Daten aus den Forschungslabors und so weiter. Willert hatte nicht sagen können, welchen Hefter er am Vorabend in Esther Grafs Hand gesehen hatte. »Herr Monaghan hat sich bedankt, und das war’s.«
Louise nickte nachdenklich. Esther hatte sich also tatsächlich Firmenunterlagen angeeignet. Dass Monaghan der Angelegenheit nicht nachgegangen war, konnte viele Gründe haben – er hatte ihr keine Bedeutung zugemessen, hatte sie vergessen. Oder GoSolar hatte bereits mit dem Verfassungsschutz zusammengearbeitet, der sich der Sache angenommen und Esther seit dieser Zeit beobachtet hatte.
»Wir müssen noch mal reden«, sagte sie.
»Ich bin hier«, erwiderte Willert, und zum ersten Mal nahm sie in seiner Stimme Hoffnung wahr.
Sie folgte Bermann ins Treppenhaus. Für einen Moment sah sie nur seine Konturen, bis sich ihre Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten. »Und? Ist der Verdacht jetzt begründet, Rolf?«
»Nerv mich nicht.«
Er eilte voran.
» Was ist passiert?«
»Schüsse im Wald bei Ebnet.«
» Wie wär’s mit Jägern?«
»Tiere rufen nicht um Hilfe.«
Bevor sie nach Einzelheiten fragen konnte, hörte sie ein hölzernes Krachen, dann kippte der Schemen vor ihr fluchend zur einen Seite, gleich darauf zur anderen, während er in hohem Tempo nach unten schlidderte. Bermanns helle Hände flatterten durch die Luft, er stürzte wie ein gefällter Baum nach hinten, wieder krachte das Holz einer Stufe, er rutschte weiter, bis er am Treppenabsatz abrupt zu einem Halt kam.
Sie hörte ihn stöhnen.
»Hast du dir wehgetan?«
»Verdammte Scheiße, gibt’s das?«
Vorsichtig stieg sie zu ihm hinunter, kniete sich neben ihn. Sein Kopf lag auf einer Kante, das Gesicht war, soweit sie es erkennen konnte, schmerzverzerrt.
Aber er lachte. »Das gibt’s nicht … «
»Rolf, alles okay?«
»Ja, ja.« Er richtete sich auf. Seine Haut leuchtete weißlich im Halbdunkel, mit der Hand fuhr er sich über den rechten Unterarm.
»Hast du dir was gebrochen?«
»Ach was, nur ’ne Prellung.«
Ein säuerlicher Geruch von Schweiß ging von ihm aus. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass ihr ein mächtiger Schreck in die Glieder gefahren war. Rolf Bermann, der Felsen, lag wie ein gestrandeter Wal vor ihr auf den Stufen.
Sie half ihm auf.
»So ’ne Scheiße.« Er rieb sich den Hinterkopf. »Die verklag ich.«
»Mach das.«
»Und dann hol ich mir Willert.«
»Jetzt fahren wir erst mal nach Ebnet. Geht’s wieder?«
»Ja, ja.«
Langsam gingen sie auf die Eingangstür zu. Bermanns Schritte waren klein und unsicher, einmal schwankte er leicht. Sie wollte ihn unterhaken, er wehrte ab. Erneut fasste er sich an den Hinterkopf und fluchte.
»Du fährst mit mir«, sagte sie.
»Ach, lass mich in Ruhe.« Er lachte heiser. »Kommandierst du deinen Auslandsbullen auch so rum? Die arme Sau.« Er tastete nach der Türklinke, griff zweimal daneben, als hätte ihm die Hand nicht gehorcht.
Seine Kraft reichte nicht, um die Tür aufzuziehen. Louise half.
Sie traten hinaus. Im Licht der Sonne sah sie, dass jegliche Farbe aus seinem Gesicht gewichen war.
»Du kannst jetzt nicht fahren, Rolf.«
»Red
Weitere Kostenlose Bücher