Das verborgene Netz
Kindern sitzen und dich verfluchen.«
Kilian starrte sie schweigend an, als überlegte er, ob er sich auf die Auseinandersetzung einlassen wollte. Er räusperte sich. »Das sagt die Richtige.«
»Du hast den Unterschied nicht kapiert, Idiot.«
»Und der wäre?«
»Schau dich an, und dann schau mich an. Du bist jung und das blühende Leben, ich bin alt und ein Scheißwrack. Mich braucht keiner, und deswegen überlebe ich. Ich bin nicht leichtsinnig, ich bin nur wütend und verbohrt und nachtragend. Ich hab keine Angst, zumindest hab ich keine Angst, irgendwas zu verlieren, weil ich nichts habe, was ich verlieren könnte. Du schon!«
»Das sind viele Unterschiede.« Er stand auf.
»Verarsch mich nicht.«
Aus der Ferne drangen Rufe herüber. Ein Hund bellte, zwei weitere fielen ein. Scharfe Befehle, die schmerzend in ihr Gehör fuhren, brachten die Tiere zur Ruhe.
»Und was ist mit Loyalität? Freundschaft?«, fragte Kilian.
Erneut bohrte sie ihm ihren Zeigefinger in die Brust. Er ergriff ihre Hand, hielt sie fest. Seine Mundwinkel zitterten, und ihr wurde bewusst, wie sehr ihn ihre harsche Reaktion getroffen hatte. »Genau das ist der Punkt«, sagte sie ruhiger.
»Verstehe ich nicht.«
»Schau dir die alten Dramen an … «
»Was für alte Dramen?«
»Keine Ahnung, Shakespeare oder so. Antike Dramen.«
»Was ist damit?«
»Da s
terben
die Menschen aus Loyalität und Freundschaft. Lass mich endlich los.« Er gab ihre Hand frei. »Du willst
gut
sein, Kilian. Und dabei verdrängst du alles andere – deine Angst, deine Fluchtimpulse, deine Vernunft. Alles, was dir das Leben rettet, wenn es mal drauf ankommt.«
»Jeder will gut sein, du auch.«
»Nein, sicher nicht.«
»Was dann?«
Sie zuckte die Achseln. »Was weiß ich? Ich bin bloß irgendwie getrieben.«
Ihr Blick wurde von Bewegungen zwischen den Bäumen abgelenkt. In der Dämmerung waren zwei Männer in weißen Kunststoffanzügen zu erkennen. Einer davon war, der Größe nach zu urteilen, Lubowitz. Er beugte den Oberkörper hinunter, stand sekundenlang wie ein spitzwinkliges Dreieck da.
Sie wandte sich wieder Kilian zu. »Botschaft verstanden?«
Er nickte.
Sie gingen zum Waldrand, betraten einen Pfad. Zwanzig Meter weiter kreuzten zwei im Wind flatternde Absperrbänder den Weg, dazwischen staken Täfelchen der Spurensicherung. Eines markierte eine feuchte, dunkle Stelle – Blut, das in den Waldboden gesickert war. In der Erde waren deutlich die Konturen von Händen zu erkennen, außerdem zwei nebeneinanderliegende, fast rundflächige Spuren.
»Scheiße«, sagte Louise.
Das Opfer war auf die Knie gestürzt, dann weitergelaufen, vom Schützen gejagt.
Während sie auf Lubowitz und dessen Kollegen zueilten, berichtete Kilian.
Kurz vor sechzehn Uhr war ein Notruf eingegangen. Eine Joggerin, die von Ebnet das Welchental hochgelaufen war, hatte in unmittelbarer Nähe des Grillplatzes Schüsse und die Hilferufe eines Mannes gehört. Drei Schüsse, ungefähr ein Dutzend Rufe, das Ganze innerhalb von zwei, drei Minuten. Dann wieder Stille.
»Er hat es nicht geschafft«, sagte Louise.
»Sieht so aus.«
Über das Handy hatte die hysterische Zeugin den Notruf gewählt. Sie war nach Ebnet in ihre Wohnung gerannt, wo sie erneut die 110 angerufen hatte. Das Führungs- und Lagezentrum hatte sie ins D 11 verbunden, von dort war sie in Peter Schönes Büro durchgestellt worden, der die Soko stellvertretend leitete, weil Bermann unterwegs gewesen war. Schöne hatte als Wirtschaftsermittler kaum Erfahrung
mit Außeneinsätzen – deswegen der große Bahnhof samt Bereitschaftspolizei und Hundestaffel.
Die ersten Streifen waren zehn Minuten, nachdem der Notruf eingegangen war, am Grillplatz gewesen – etwa zur gleichen Zeit, als Louise und Bermann bei Willert geklingelt hatten.
Sie legte die Hand an Kilians Arm, fragte nach Bermann. Er antwortete, er habe ihn noch nicht gesehen, womöglich sei er bei der Zeugin, die eben von der Soko vernommen werde. Vorhin sei von dort ein Anruf gekommen – die Zeugin habe ein Auto anspringen gehört, das sich nach Norden entfernt habe. Es müsse ein Stück weiter oben abgestellt gewesen sein, denn am Grillplatz oder auf dem Parkplatz habe keines gestanden.
Louise und Kilian hatten die beiden Erkennungsdienstler erreicht, die weitere Absperrbänder um versickertes Blut und Eindruckspuren zogen.
»Du hast schon wieder keinen Kaffee mitgebracht«, sagte Lubowitz.
»Für mich Cappuccino mit laktosefreier Milch«,
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