Das verborgene Netz
dem Körper einmal um die eigene Achse gedreht, spürte einen Stoß, hörte Bredik aufschreien, rasche Schritte auf dem Holzboden, ein dumpfes Geräusch, als jemand stürzte. Mikes Atem an ihrem Ohr, die Mündung einer Pistole stieß gegen ihren Hinterkopf. Sie wurde nach hinten mitgerissen, prallte mit dem Ellbogen gegen den Türrahmen, schrie vor Schmerz auf. Plötzlich fiel das Licht des Mondes auf ihr Gesicht, dann flog kaum zwanzig Zentimeter von ihrem Kopf entfernt die Tür an ihr vorbei und krachte ins Schloss.
Ohne seinen Griff zu lockern, schob Mike sie durch das dunkle Schwesternzimmer. Sie nahm den Geruch von ungewaschener Kleidung, einem ungewaschenen Körper, Schweiß wahr. »Nach links oder rechts?«, fragte er.
Vor dem linken Ausgang der Intensivstation saßen Marić und Heller, der Probleme machen könnte. »Nach rechts.«
An der Tür gab Mike sie frei. Sie traten hinaus, durchquerten die Station rasch in Richtung Hauptschleuse, an den abgetrennten Bereichen vorbei, wo Esther lag, dann
durch den offenen Raum. Bis auf die leisen Monitortöne und das Rauschen der Luftfilteranlage war nichts zu hören.
Im Vorraum mit dem Desinfektionsspender zog Louise die Schleuse auf. An den überraschten Blicken der beiden uniformierten Kollegen erkannte sie, dass sie begriffen hatten, wer der Mann neben ihr war. Zwei Hände fuhren zum Pistolenholster.
»Alles okay«, sagte sie.
Der Linke, ein älterer Polizeiobermeister, hatte Mike fixiert, schien nicht überzeugt.
»Meine Waffe«, sagte Louise und streckte die Hand aus.
Mike legte die Heckler & Koch hinein.
»Alles okay«, wiederholte sie.
Der Ältere nickte.
Sie liefen weiter, Mike voraus. Er führte Louise in einen Nebengang, bog erneut ab, blieb vor einem Aufzug mit der Aufschrift »Nur für Personal« stehen.
Sie reichte ihm ihre Waffe. »Sie können sie wiederhaben.«
»Warum?«
»Ich bin müde, am Ende verwechsle ich sie mit einem Bleistift und tu mir weh.«
Sie fuhren in den Keller, eilten durch die menschenleere Wäscherei, Lagerräume voller Regale mit Kleidung, Handtüchern, Bettwäsche, hielten vor einer Brandschutztür. Mike zog einen Schlüssel hervor und öffnete sie. Eine steinerne Rampe führte zu einem geteerten Weg, dahinter lag der Krankenhauspark.
» Warten Sie«, sagte Louise.
Sie ging die Rampe hinunter. Wind erfasste sie, auf der
Haut spürte sie kühlen Nieselregen. Soweit sich das in der Dunkelheit erkennen ließ, waren sie allein.
Mike tauchte neben ihr auf. »Durch den Park.«
Wegen der Schrittgeräusche mieden sie die Wege, liefen entlang der Seitenmauer über nasses Gras und unter kahlen Laubbäumen hindurch. Vom Klinikgebäude aus wären sie nur zu erkennen gewesen, wenn man genau hingesehen hätte, zwei Schatten, die lediglich für ein paar Sekunden aus dem Dunkel auftauchten, als sie vom Lichtschein einer Parklampe erfasst wurden. Louise hielt sich die Seite, wo ein Stechen eingesetzt hatte, den Kopf hatte sie eingezogen, da wütete das Summen. Mike war langsamer geworden, ein rücksichtsvoller Mensch immerhin, dachte sie, wenn auch zu eigensinnig. Zwei weißgekleidete Nonnen unter einem Regenschirm auf einem Nachtspaziergang in der Ferne, ansonsten keine Fußgänger – und kein Hinweis auf weitere Kollegen vom Verfassungsschutz, obwohl Bredik und Harth sicher nicht allein gekommen waren. Solche Methoden kannte man nur von der kinderlosen Kollegin Bonì, die langwierige Ermittlungen in hochkomplexen Fällen gefährdete und Katastrophen heraufbeschwor und doch meistens die richtigen Entscheidungen traf.
Zumindest, dachte sie, hielt sie sich an den richtigen Orten auf, dort, wo die Entscheidungen vorbeikamen.
»Ich kann nicht mehr.«
Mike wandte sich um. »Noch fünfzig Meter.«
»Zehn, dann ist Schluss.«
Er reagierte nicht.
Schließlich erreichten sie eine schmiedeeiserne Pforte. Louise lehnte sich keuchend an die Mauer, während Mike einen weiteren Schlüssel aus der Tasche zog und aufschloss.
»Ich wär ja nicht überrascht, wenn Sie zu meiner Wohnung auch einen hätten«, sagte sie.
Wieder bekam sie keine Antwort. Ein Schutzengel ohne Humor.
Und ohne Vertrauen. Er ließ sich ihr Mobiltelefon geben, schaltete es aus, entfernte den Akku.
»Keine Überraschungen mehr«, sagte er.
Ein paar Straßen weiter stiegen sie in einen alten blauen Golf mit Freiburger Kennzeichen.
»Wohin fahren wir?«
Mike nannte ein Hotel in der Altstadt.
»Und da ist Steinhoff?«
»Ja.«
»Dann brauche ich
Weitere Kostenlose Bücher