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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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etwas Besonderes war, und über seine allzusehr gestutzten Haare trösteten mich die molligen Ohrläppchen hinweg. Vor allem aber gefiel mir, daß er hochdeutsch sprach. Er sprach nicht viel. Tagsüber im Laden mußte er schon genug daherreden.
    Anderntags paßte ich Ferdi an der Straßenbahnhaltestelle ab, wo er auf Hanni wartete. Aufrecht, die Arme vor der Brust gekreuzt, saß er auf der Bank des gemauerten Wartehäuschens, das die Gemeinde gerade hatte mit Fenstern versehen lassen, und schaute in die Richtung von Schönenbachs Gärtnerei. Seine Beine in den scharf gebügelten Trevirahosen standen so genau nebeneinander, als wären die spiegelnden Schuhe auf einer unsichtbaren Linie festgeleimt. Ich trug ein rosa Kleid, über der Brust gerade so eng, daß, drückte ich den Rücken kräftig durch, zwei Hügelchen die Baumwolle spannten. Gelbgraue Ränder, diesmal vom Achselschweiß der Oberpostdirektorstochter, nötigten mich, meine Arme bis zu den Ellenbogen fest an die Seiten zu pressen und sehr gemessenen Schritts auf Ferdi zuzu- stelzen.
    Tach, sagte ich und stellte mich mit rausgestrecktem Brustkasten vor seine Schuhe.
    Ja, Hilla, sagte Ferdi, was machst du denn hier?
    Nix, sagte ich. Das Kleid war mir um die Brust herum wirklich zu eng, auch wenn ich sie nicht vorschob.
    Setz dich doch, sagte Ferdi. Er gähnte. Ohne sich die Hand vor den Mund zu halten.
    Die Rathausuhr zeigte zwanzig nach sieben, die Straßenbahn kam um halb acht.
    Ferdi begann, die Spitzen seiner braunen Schuhe abwechselnd vom Boden zu lösen und wieder zu senken. Im Takt dazu brummte er >Am Rio Negro< und schaute mich verschwörerisch an. Hat dir denn unser Tänzchen gestern gefallen, kleines Fräulein? Ferdi rollte das R tief in der Kehle, so wie Birgits Vater, der Friese, doch aus Ferdis Mund brach es härter, herrisch fast.
    Hm, nickte ich heftig und platzte heraus: Kennst du Lessing?
    Nein, sagte Ferdi und unterbrach das Auf und Ab seiner Fußsohlen. Kenn ich nicht. Wer soll das denn sein?
    Ferdi, sagte ich, du kennst doch Lessing! Den Dichter.
    Konnte jemand, der so feines Hochdeutsch sprach, nie etwas von Lessing gehört haben? Wenn Ferdi wüßte, was er diesem Lessing verdankte!
    Ich baute mich vor ihm auf, Bauch rein, Brust raus: Gotthold Ephraim Lessing. Geboren 1729, gestorben 1781: »Nathan der Weise<. Die Ringparabel. Ich war kaum beim Opal angelangt, als Ferdi aufsprang - die Straßenbahn bog aus der Erpenbacher Chaussee auf die Haltestelle zu - und mich beiseite schob. Mich mit meinen Worten deutscher Dichtung einfach beiseite! Ferdi, rief ich, verzweifelt ins Kölsch zurückfallend. Dat is doch Lessing, wat esch dir he sach. Do muß de doch zohüre.
    Lessing, lachte Ferdi. Was soll ich mit deinem Lessing. Da kommt Hanni.
    Ja, Hilla, wat mäs du dann he? Hanni hängte sich bei Ferdi ein. Zeit, nach Haus zu jehn, et wird schon dunkel, rief sie mir über die Schulter noch zu. Tatsächlich? Das sah ich selbst! Vielleicht war Lessing nicht das richtige für Ferdi.
    Kennst du Mörike? fragte ich, kaum daß ich am nächsten Abend Tach gesagt hatte. Ehe sich Ferdi, dem noch ein paar Stoppeln vom letzten Haarschnitt auf der Hemdbrust klebten, setzen konnte, begann ich: Eduard Mörike. Geboren 1804, ge-storben 1875: >Der Feuerreiter<. Ferdi schloß die Augen. Gut. Dann spähte er nicht mehr nach dieser verflixten Straßenbahn.
    Ich machte eine Pause. Weiter, sagte er träumerisch. Das geht doch bestimmt noch weiter. Ich kam sicher durch die zweite Strophe, begann die dritte, stieß gerade >Brennt's!< hervor, daß ein paar Leute die Köpfe nach mir drehten, als ich die Räder rasseln hörte und ins Stocken geriet. Ferdi sprang wie am Vortag hoch und lief der Bahn entgegen. Ich knirschte vor Wut mit den Zähnen und rannte nach Hause.
    Ferdi hielt schon nach mir Ausschau, als ich anderntags auf mich warten ließ. Nun, wie geht es denn jetzt weiter mit diesem Feuerreiter? fragte er, gutmütig lächelnd. Wunderbar, wie er so sicher und leicht in Reimen sprach, aufregend, wie sein Adamsapfel die Kehle auf und ab rutschte. Ich brachte die Ballade sicher zu Ende, laut Rathausuhr exakt drei Minuten vor der Straßenbahn. Ferdi saß da, Mund auf, Augen zu, mit einem Ruck sackte ihm der Kopf in den Nacken. Ja, Hilla, da bist du ja noch. Ferdi gähnte und streckte sich: Ich bin doch nicht etwa eingeschlafen? Weißt du, drei Dauerwellen an einem Nachmittag, das haut den stärksten Eskimo vom Schlitten. Hahaha. Und dazu mußt du quatschen, quatschen,

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