Das verborgene Wort
quatschen. Ferdi schluckte. Ich sah ihn verständnislos an. Was redete der Mann? Hier ging es um Dichtung, nicht um Dauerwellen. Wann endlich begriff er, wo er hingehörte?
Kannst du noch eins aufsagen? Ferdi schüttelte sich. Ich nickte glücklich und wollte eben den Knaben übers Moor schicken, als die Straßenbahn um die Kurve quietschte. Bis morgen, rief Ferdi und sprang davon. Bis morgen, bis morgen, summte es in meinem Kopf, vor meinen Augen hob und senkte sich Ferdis hochdeutscher Adamsapfel. Den scharf rasierten Nacken und die Bögen über den Ohren würde ich ihm schon noch ausreden.
Am nächsten Tag goß es. Es war nicht leicht, das Haus noch einmal zu verlassen. Im Wartehäuschen, das wir an den sonnigen Tagen zuvor für uns gehabt hatten, drängten sich die Menschen. Zwischen Ferdi und mir schnatterten Frau Trappmann und Frau Meuten miteinander. Über ihren Dauerwellen trugen sie unterm Kinn zusammengebundene durchsichtige Plastikhauben, die unangenehme Erinnerungen an ähnliche Hüllen in mir wachriefen.
Ich wollte schon wieder kehrtmachen, als die Straßenbahn hielt. Hanni war nicht in der Bahn.
Ferdi setzte sich. Ich mich dicht daneben. Wir waren allein. Kein Mensch in Sicht. Draußen rauschte der Regen, mitunter peitschte eine Böe an die Fenster, dann wieder nur das Trommeln der Tropfen auf das Wellblechdach. Was wollte ich Ferdi nicht alles sagen! Ferdi, sagte ich schließlich, soll ich noch mal Lessing? Meinetwegen, Hilla, nickte er. Wo Hanni nur bleibt?
Ich tat, als hätte ich die Frage nicht gehört. Gotthold Ephraim Lessing. Geboren 1729, gestorben 1781: >Nathan der Weise<. Die Ringparabel. Ganz langsam sprach ich, so langsam, als könnte ich die Zeit damit überlisten, verlängern bis in alle Ewigkeit oder doch wenigstens, bis Ferdi merkte, mit wem er es zu tun hatte. Ferdi aber schlief nach den ersten Sätzen ein, seine Schulter sackte schwer auf meine, in das Rauschen des Regens, der stärker geworden war und fast gewaltsam auf das Wellblech prasselte, mischten sich schüchterne Pfeiftöne aus seiner leicht verschnupften Nase. Ich aber ließ von meinem Lessing nicht ab, murmelte die Ringparabel in den Kragen meines Anoraks und zog die klammen Füße aus den Gummistiefeln zum Aufwärmen auf die Bank unter den Rock. Wie immer, wenn ich es mit Geschriebenem zu tun hatte, das ich liebte, wurde mir die Zeit weder kurz noch lang, sie verschwand einfach, und diesmal nahm sie Ferdi mit. Als ich fertig war, zog ich meine Schulter behutsam unter Ferdis Schulter weg, sah mir den schlafenden Mann, der Gefahr lief, im nächsten Augenblick nach der Seite zu kippen und hart auf die Bank zu schlagen, noch einmal genau an und ging nach Hause.
Tage später steckte Hanni mir das Schulheft mit der Ringparabel wieder zu. Sie machte ihre Sachen für den Umzug in die elterliche Wohnung fertig und wollte nicht, daß Ferdi das Heft in die Finger fiele. Die Musiktruhe hatte man schon hinübergeschafft und vor die grünbeige genoppte Couchgarnitur gestellt. Lampen gab es, bis auf eine Stehlampe mit drei tütenförmigen Hütchen über den Glühbirnen, noch nicht. Der Dondorfer Elektroladen hatte wegen eines Blinddarmdurchbruchs vorübergehend geschlossen. Hanni zählte seit dem Aufgebot die Tage. Jetzt waren es noch zehn. Zum Blumenstreuen war ich schon zu groß, füreine Brautjungfrau noch zu klein. Hanni änderte mir ihr Kleid, das sie selbst vor Jahren als Brautjungfrau getragen hatte, und überredete die Mutter, mich mein knielanges Haar bei der Hochzeitsfeier offen tragen zu lassen.
Ferdi sah ich nach unserem letzten Abend im Wartehäuschen nur noch von weitem. In der Kirche trug er jetzt über seinem braunen Treviraanzug einen gedeckten Übergangsmantel und tauchte, da er wie alle anderen einen dunklen Hut aufsetzte, in das tarnfarbene Heer von Männern in Herbst- und Winterkleidung ein.
Die Großmutter war dabei, die Gläser mit Apfelkompott aus dem Einkochgerät zu nehmen. Aus alten Bäckertüten hatte ich Etiketten zurechtgeschnitten und malte gerade mit meinen Buntstiften >Apfelkompott< und das Datum darauf, als ein Polizeiwagen vor unserem Haus hielt. Die Mutter riß die Haustür auf, die Flurtür zur Küche. Propp, der Oberwachtmeister, stieg aus, dann Hannis Mutter, zuletzt der Pastor. Die vierte, zusammengekrümmte Person auf dem Rücksitz konnte ich nicht erkennen.
Maria, schrie die Tante und warf sich der Mutter an die Brust. Dä Ferdi. Die Huhzick [47] . Dat ärme Hanni.
Der Pastor nahm die
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