Das verborgene Wort
Großmutter beiseite. Dann verließ er mit dem Polizisten das Haus. Die Tante sank überm Tisch zusammen, die Huhzick, die Huhzick, stieß sie von Zeit zu Zeit hervor.
Ferdi war tot. Er war, so die erste Seite des Lokalteils der >Rheinischen Post<, in Düsseldorf-Bilkenbach beim Überqueren der Gleise von einem Güterzug erfaßt und mehr als hundert Meter mitgeschleift worden. Hanni, sie war die Person auf dem Rücksitz gewesen, hatte ihn identifizieren müssen.
Fassungslos hatte die Braut ihrer Mutter anvertraut, was nicht in der Zeitung stand. Unter dem Siegel der Verschwiegenheit flüsterte diese es meiner Mutter, die wiederum der Großmutter zu, und irgendwann schnappte ich es auf: Ferdi hatte eine Perücke getragen. Unweit von seinem zerschmetterten Körper hatte man sie gefunden und im Leichenschauhaus einfach neben seinen kahlen Kopf gelegt, wie Hanni mir später erzählte. Esch weiß nit mehr, wat schlemmer wor, dat he duut wor oder die Pläät [48] . He wollt misch ja auch nie an seine Kopp lasse. Esch dürft ihm nie dursch de Haar streische. Esch hab jedacht, dat lescht sisch nach dä Hochzeit. Wat hatt' dä bloß in Bilkenbach ze suchen? Jede Erinnerung an Ferdi endete mit diesem verständnislosen Kopfschütteln. Die Großmutter triumphierte offen. Gott hatte gesprochen. Einer Meinung mit dem Ohm.
Es dauerte einige Tage, bis man Ferdis Leiche freigab. Man habe ihn, buchstabierte die Tante, op de ziert. Aufgeschnitten, erläuterte ich, ganz Inspektor von Wallace und Christie Gnaden. Wie die Oma die Hühner, setzte ich zum besseren Verständnis hinzu. Der Laut aus dem Rachen der Tante jagte mir eine Gänsehaut den Rücken hinunter. Die Mutter preßte ihr Taschentuch an den Mund.
Ferdis Uberreste wurden aus Bilkenbach in das Leichenhäuschen der Gemeinde überführt. Es wurde selten benutzt. Familienmitglieder bahrte man im Haus auf.
Dä Kääl, hatte die Tante protestiert, kütt mer nit mieh en et Huus. Hanni hatte überlegt, den Sarg in der neuen Wohnung, dem als Kinderzimmer vorgesehenen Raum, aufzustellen. Doch wie sollte sie eine Wohnung, in der tagelang der Sarg eines Wildfremden, so die Tante, herumgestanden hatte, jemals wieder loswerden?
Für den Sarg, Modell >Große Palme<, hatte Hanni die Kosten übernommen. Der Schreiner rechnete den Preis gegen die Couchgarnitur auf, die er zurücknahm. Der Zinksarg, von der Polizei in Rechnung gestellt, durfte nicht mehr geöffnet werden, wurde, so wie er kam, in die >Große Palme< gesenkt. Nicht einmal sein Brautsträußchen konnte Hanni dem Toten an die Brust heften.
Die beiden kniehohen Böcke unter dem Sarg hatten die Schwestern des Krankenhauses in ein schwarzes, mit einem Sterbekreuz aus Silbergarn besticktes Tuch gehüllt. An der Stirnwand des kahlen Raumes hing der Gekreuzigte. Hier, bei den Armen Dienstmägden Christi, nahm die katholische Kirche den Flüchtling aus Schlesien zum letzten Mal in ihre Obhut.
In der Gereonskirche, wo der lebendige Ferdi in den letzten Wochen so gern gesehen und gehört worden war, durfte der tote Mann nicht mehr sein. Auf dem katholischen Friedhof, wo er mit Hanni, wenn er sie von der Straßenbahn abgeholt hatte, gern noch ein wenig in der warmen Herbstsonne herumspaziert war, schon gar nicht. Eine evangelische Totenfeier in der evangelischen Kirche von einem evangelischen Pfarrer mußte bestellt werden. Der evangelische Müpp bekam seine letzte ewige evangelische Ruhe da, wo er hingehörte, auf einem evangelischen Friedhof.
Doch was dem Lebenden nie gelungen wäre, schaffte der Tote: Braut und Brauteltern, meine Familie und andere Verwandte, sogar die Großmutter setzten zum ersten Mal ihren Fuß in eine evangelische Kirche.
Die Tante hatte keinen Organisten bestellt. Die Trauergemeinde schlurfte zum dünnen Klang der Sterbeglocke den Gang entlang in die vorderen Bänke. Hanni hing in den Armen ihrer Mutter und meiner, als hätte man den Faden, der ihre Gliedmaßen in Spannung gehalten hatte, gekappt. Sie schien kleiner geworden und roch nach ungewaschener, kranker Haut. Dat Hanni, hörte ich eine der Frauen flüstern, süht us wie en Wittfrau. Die Großmutter warf ihren Kopf in den Nacken und schaute sich um wie ein Eroberer im unterworfenen Feindesland.
Die Kirche war weiß gekalkt. Die Fenster aus einfachem Glas, die Bänke grau gestrichen, der Fußboden mit hellen Steinplatten belegt. Keine Bilder, keine Blumen, keine Farben, kein Trost. An der Stirnseite zwischen zwei Fenstern ein mannshohes Kreuz aus
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