Das verborgene Wort
ist Unsinn, sagte Geffken. Das bestritt ich nicht, aber der Konjunktiv war richtig. Das konnte Geffken nicht bestreiten. Die Klasse wartete gespannt. Geffken räusperte sich anhaltend. Ich liebte ihn und hielt den Mund. Im stillen grübelte ich weiter. Ein Satz konnte richtig und falsch sein zugleich. Die Katze schreibt ein Kalb. Das war richtig falsch. Der Katze fing das Maus. Das war falsch richtig. Wer war mächtiger? Die Grammatik oder die Wirklichkeit? Waren die Dinge nur das, was die Sprache ihnen zugestand, oder gaben die Dingenur das preis, was die Sprache ihnen abzuringen imstande war? Waren die Dinge nur das, was die Sprache ihnen gab? Konnten die Dinge, konnte die Sprache unabhängig voneinander existieren? Trug die Sprache die Welt in sich oder die Welt die Sprache? Wo war die Allmacht der Grammatik geblieben? War das Reich der Grammatik wie das Reich Gottes am Ende nicht von dieser Welt?
Gisela, die bei Fräulein Abendgold nicht einmal eine Strophe ohne Stottern hatte zu Ende bringen können, spielte uns den ganzen >Handschuh< von Schiller auswendig vor. Schrie ihre Verachtung stampfenden Fußes in unsere ergriffenen Gesichter und schleuderte Geffken ihr Füllhaltermäppchen an die Brust. Edda machte keine Kommafehler mehr, und Gretel zog nicht mehr nach jedem Satz die Nase hoch. Doris kam in immer schickeren Kleidern zur Schule, und Karola kämmte sich in den Pausen vor Geffkens Stunden ununterbrochen ihr langes blondes Haar. Nur Christel verhielt sich wie immer. Bis wir sie in unseren Plan einweihten.
Gustav Geffken unterrichtete uns auch in Musik. Als er von seinem Vorgänger, einem dicken kleinen Mann, der mit seinen kurzen Armen in der Luft herumgefuchtelt hatte, als wollte er Fliegen fangen oder verjagen, den Schulchor übernahm, gab es plötzlich einen Uberschuß an Sopran- und Altstimmen. Gott sei Dank hatten wir alle schon vorher mitgesungen. Nun klebten wir an Geffkens Kirschenlippen, wenn er mit seinem vollen roten Mund >Bunt sind schon die Wälder< vor uns artikulierte, lautlos und stark übertrieben, als sollten Gehörlose sprechen lernen, >gelb die Stoppelfelder grimassierte und dabei seine langen, leicht vergilbten Zähne bleckte. Mit welcher Eleganz liebkosten seine Hände die Luft zwischen seinem Leib und unseren Körpern, lockten die hinter den Ohren zu Muscheln geformten Hände die hingebungsvollsten Töne aus uns hervor. Hände, die ich für mich nur die >adligen Hände< nannte, Doris verriet mir, daß sie im stillen von Geffkens >Schmetterlingshänden< sprach. Einmal faßten sie mich sogar seitlich an meine Rippen. Dorthin, wo das Zwerchfell sitzt, sollten wir atmen, nicht in die Brust, in den Bauch. Seither war mir von Zeit zu Zeit, als fühlte ich seine Hände in der Zwerchfellgegend; dann hielt ich mitten im Satzinne, schüttelte mich ein wenig, als ob ich fröre, und die Freundinnen sahen mich neidvoll an.
Doch wir wollten für ihn nicht nur singen. Wir wollten für ihn tanzen. So wie Carmen für Don Jose. Doris besuchte mit ihren Eltern jeden Monat die Aufführungen in der Großenfel- der Stadthalle und erzählte uns davon. Singen und tanzen wollten wir für ihn, Don Jose Geffken. Aber was? >Guter Mond, du gehst so stille«, schlug die beschauliche Gisela vor. Edda war für >Rio Negro<, Karola für >La Paloma<, Doris für den >Gefange- nenchor<, Christel wollte >Die Tochter vom Gouverneurs ich auch.
Hinter den Brombeerhecken im Großenfelder Stadtpark, da, wo er in wildes Dickicht übergeht, legten wir unsere Aktentaschen auf einen Haufen und stellten uns so auf, daß unsere Körper ein Herz formten. Doris hatte sich das ausgedacht, Choreographie nenne man das. Ich als Kleinste machte die Herzspitze. Wir bogen die Arme über dem Kopf zu einem Ei. >Sie wohnte im weißen Haus am Meers begann Giselas reifer Alt - bei >wohnte< fielen wir ein und beschrieben mit Parallelschwung einen Kreis, beim >weißen Haus< formten wir ein Dreieck über unserem Kopf, zu >am Meer< bewegten wir die Arme wellenförmig vor der Brust, bis der Ton - wir genossen einen jeden - verklungen war. >Und war die Tochter vom Gouverneure Wir ergriffen bei >Tochter< den Rocksaum, knicksten und drehten uns einmal um die eigene Achse. Schlugen beim >Gouverneur< die Hacken zusammen und grüßten militärisch-zackig wie Schützenbrüder. Die Lücken zwischen unseren großen, sinnstiftenden Gesten füllten wir durch heftige Parallelschwünge aus. >Und keine der vielen Orchideen war auf der Insel so schön<, sangen
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