Das verborgene Wort
Niemand bemerkte, daß ich Ferdi mehr nachwarf als ein Bündel Stolzer Heinrich: mein Schulheft mit der >Ringparabel<.
Für die Großmutter blieb Ferdis Tod trotz der beiden Pastoren ein Gottesurteil. Daß mein Bruder bei der Beerdigung hinter der Wacholdergruppe einen Mann gesehen haben wollte, einen Mann in schwarzem Lederzeug wie ein Motorradfahrer, der sich immer wieder die Augen gerieben und die Nase geputzt hatte, glaubte ihm keiner. Dä Jong war im richtigen Alter für Räuber und Gendarm.
Die Mutter zog ihr schwarzes Kleid noch am selben Tag wieder aus, die Tante nach einer Woche, Hanni nach einem Vierteljahr. Sie lud mich nie mehr zum Schallplattenhören und Tanzen ein und ging mir aus dem Weg. Sie hatte auf der Weberei schon gekündigt und mußte nun im Personalbüro zu Kreuze kriechen. Ihre Stelle war wieder besetzt. Man stellte sie als Küchenhilfe in der Kantine ein, was so schlecht bezahlt wurde, daß es kaum das Hinfahren lohnte.
Was Wunder also, daß Hanni, als Rudi, Rudi Kürten, auftauchte, nicht lange fackelte. So jedenfalls erzählte es die Mutter, als sie kurz nach Weihnachten aufgeregt und beeindruckt aus Piepers Laden heimkehrte. Die Tante hatte die Neuigkeit dort öffentlich verkündet.
Rudi Kürten war das einzige Kind eines kleinen Bauern, der noch in den letzten Kriegstagen im Volkssturm gefallen war. Er hatte schon immer ein Auge auf Hanni geworfen, aber nicht nur auf sie. Er trieb sich auf Schützen- und Kirmesfesten herum, trank gern einen über den Durst, und wenn er ein Lokal betrat, gab es erst mal für alle ein Helles vom Faß. Sich mit Rudi blicken zu lassen konnte ein Mädchen über Nacht um seinen guten Ruf bringen. Rudi war einer von denen, die alles met dä Muul machen, ein Großmaul.
Von seinem Hof lebte er mehr schlecht als recht, bis die steinigen Felder auf dem Kiesberg als Bauland ausgewiesen wurden. Wenige Tage nach Ferdis Beerdigung. Für die Großmutter ein zweites Gottesurteil.
Denn Rudi setzte zum ersten Mal in seinem Leben einen seiner großsprecherischen Pläne in die Tat um. Er war ein passionierter Reiter, in Springturnieren mehrfach ausgezeichnet. Nun ließ er zur kopfschüttelnden Verwunderung aller Dondorfer in den Kämpen am Rhein eine, wie ihnen schien, sinnlos hohe Scheune errichten. Die Tante klärte uns auf: Rudi Kürten baue eine Reithalle, habe das Land der Gemeinde gestiftet, die sich im Gegenzug an den Baukosten beteilige. Er selbst mache in Düsseldorf eine Ausbildung zum Reitlehrer und wolle hier eine Reitschule eröffnen. Die Dondorfer schüttelten die Köpfe. Rigge liere, reiten lernen? Wer soll dann he rigge liere? De Buure? Op dänne Pääd? Rudi schaffte drei mittelgroße Traber an und setzteein paar Wochen lang Anzeigen in die »Rheinische Post<, die »Düsseldorfer Nachrichten< und den >Pferdefreund<. Mit Erfolg. Die fünf Ställe, die er zusätzlich in die Halle hatte bauen lassen, waren schnell vermietet, Dondorf lag günstig zwischen Köln und Düsseldorf, und Ende der fünfziger Jahre hatte manch einer schon Geld genug für ein eigenes Pferd.
Als die Mutter mir kurz vor Pfingsten von den neuen Heiratsplänen der Cousine erzählte, war ich entsetzt. Konnte eine Braut den Liebsten so schnell verschmerzen? Im Herbst zum Kirmesball ging Hanni mit Rudi schon Arm in Arm, das war so gut wie verlobt. Immer wieder strich sie ihm durch das dunkelblonde widerborstige Haar.
Doch war ich besser als sie? In dem Augenblick, als Gustav die Klasse betrat, hatte ich Ferdi vergessen. Gustav Geffken, der neue Deutschlehrer, dünn und durchscheinend wie ein Tagmond im Winter, aber mit rabenschwarzem Haar, das ihm süß duftende Pomade an die Schläfe klebte, und Augen, so apfelgrün, und Wimpern, so gebogen wie die von Gina Lollobrigida. Ich liebte den schönen Lehrer nicht allein. Doris, Edda, Karola, Gre- tel und Gisela, gelegentlich auch Christel liebten mit. Berstend vor kichernder Energie, stellten wir ihm nach, lasen ihm jeden Lehrerwunsch von den Augen ab. War ich bislang eine gute Schülerin gewesen, wurde ich nun unerträglich. Mehr als einmal färbten Geffkens blasse Wangen sich rosa, wenn es um die Grammatik ging. Konjunktive sollten wir bilden. Seit ich lesen und schreiben konnte, hatten mich grammatische Regeln erregt, diese göttliche Willkür, die fernab aller sichtbaren Dinge funktionierte wie ein ehernes Gesetz. Der Bratwurst läuft die Nase, der Bratwurst liefe die Nase, der Bratwurst würde die Nase gelaufen sein, sagte ich. Der Satz
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