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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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wir, ließen die Blüten durch wildes Auf und Ab, Hin und Her, Durch- und Umeinander unserer Arme und Beine emporschießen und begrenzten die >Insel< mit einem entschlossenen Armkreis vor der Brust. >Schön<, lächelten wir mit breitgezogenen Lippen, wodurch der Umlaut eine Färbung ins >e< bekam, verdrehten die Augen und hoben die Arme wie Heilige in der Verzückung, da auch wir nun kurz vor dem Höhepunkt standen, einem innig geheulten >Wie Rosalie, wie Rohosalie<. Was legten wir nicht alles an Gefühlen in dieses >Rohosalie< hinein. Unsere
    Sehnsucht nach dem Erwachsenwerden und die Angst davor, unsere Neugier, unsere Lust am Leben. Wir öffneten unsere Arme weit und hoch, immer höher, als könnten wir uns ein Glück herausreißen aus dieser Welt hinter der Brombeerhecke.
    Wir sangen und gestikulierten uns durch alle Strophen, alle Höhen und Tiefen von Liebeslust und Leid der schönen Tochter vom Gouverneur«. Am Ende war Rosalie tot, und wir lagen, eines eifersüchtigen Meuchelmörders Beute, Geffken herzförmig verrenkt zu Füßen.
    Bei seinen männlichen Schülern, besonders den älteren, war der Lehrer verpönt. Geffken ließ sich, so durchscheinend seine blasse Gestalt, so schwärmerisch seine Blicke, so delikat seine Gesten sein mochten, durchaus nicht auf der Nase herumtanzen, wie sie es von seinem Vorgänger gewohnt waren.
    Wir wollten Generalprobe abhalten, als ein knappes Dutzend finsterer Burschen aus der sechsten Klasse die Akazienallee heraufkam, ohne Zweifel auf dem Weg zu Geffkens Haus. An Proben war nicht mehr zu denken. Wir wurden gebraucht.
    Geffken weg, hat kein Zweck, rottete sich die Meute vor dem Haus des geliebten Lehrers zusammen, brüllte aus vollem Halse durch den Vorgarten mit seinen verblühten Forsythien, dem knospenden Flieder gegen die Wand des Einfamilienhauses. Immer wieder diesen einen Satz: Geffken weg, hat kein Zweck!
    Geffken gut - von Schuh bis Hut! sagte ich. Wir schrien los. Die Jungen brüllten lauter. An Geffkens Haus rasselten die Rolläden runter. Die Haustür ging auf, ein Mop erschien, ein Arm, der zu einer älteren Frau im Kittel gehörte. Sie schüttelte den Kopf, den Mop, Staub in der kühlen Aprilsonne tanzte zu Boden. Den Einfall hatte Gisela, begeistert waren wir alle.
    Die Jungen waren auf dem Bürgersteig stehengeblieben und wagten nicht, das Tor zum Vorgarten aufzustoßen. Wir taten es. Legten unsere Schulmappen hinter den Forsythien ab, formierten uns herzförmig, dicht vor der ersten Treppenstufe zur Haustür, hoben die Arme, gingen in Elfenstellung. Eins, zwei, drei, zählte Gisela mit ihrer vor Aufregung noch tieferen Altstimme. Schon hatte das >Geffken weg, hat kein Zweck< einiges an Lautstärke und Geschlossenheit verloren, zu gespannt verfolgten die Rüpel, was wir in des Lehrers Vorgarten trieben.
    Eins, zwei, drei, zählte Doris: >Sie wohnte im weißen Haus am Meer.< Unsere Stimmen klangen heiser, festigten sich aber von Strophe zu Strophe, und die Gesten saßen. Es wirkte nicht sofort. Erst als wir in unsere letzten >Rohohoosalie, Rohohoosalie< ausbrachen und uns dabei in todwunden Zuckungen auf den Be- tonplatten im Vorgarten des Lehrers wälzten, ohne Anoraks und Faltenröcke zu schonen, gaben die Schreier auf. Im ersten Stock wurden die Rolläden wieder hochgezogen, ein Fenster geöffnet. Geffken erschien mit seinem schiefen, verlegenen Lächeln, seinen verhangenen Augen, einem müden Winken seiner schmalen weißen Künstlerhand. Wir knicksten. So, wie wir es bei den Brombeerbüschen unzählige Male geübt hatten, tief in die Knie gehend, mit beiden Händen das Röckchen spreizend wie Carmen. Wir waren glücklich. Stolz. Wollten gerade noch einmal von vorn beginnen, als im Fensterrahmen ein zweiter Kopf auftauchte, ein großer, blonder Lockenkopf auf stabilem Rumpf und einem starken Busen unter der türkisfarbenen Strickjacke. In breitem rheinischem Singsang, zu dem Geffken ein paarmal langsam das Haupt hob und senkte, rief die Frau uns ins Haus. So etwas Schönes, sagte sie, müsse belohnt werden, sie habe auch eine Überraschung für uns. Die Überraschung war ihr schon gelungen. Daß Geffken eine Frau haben könnte, war uns nie in den Sinn gekommen. Eine Belohnung hatten auch wir erhofft, keine bestimmte, aber doch eine von Geffken selbst.
    Im Hausflur fegte noch immer die Frau im Kittel. Joht nur eropp, rief sie und sah uns hämisch nach. Die mit abgeschabtem Teppichboden belegte Treppe knarrte lauter als unsere Kellerstufen, als wir im

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