Das verborgene Wort
Gänsemarsch nach oben stiegen, wo uns Herr und Frau Geffken in einem winzigen Flur erwarteten. Mama, nu sei doch ruhisch, rief die Blondine der in der Kittelschürze zu. Eine Tür knallte. Geffken zuckte zusammen. Seine Gestalt war noch immer durchscheinend schmal, seine Haare rabenschwarz und fettig, doch was in der Schule im Lichte Schillers, Goethes, Mozarts oder Verdis vornehm, lässig, elegant erschien, wirkte hier, neben dieser strotzenden Frau, kränklich, schmächtig, lebensmatt. Der Arme, ausgeliefert diesen Frauen, ohne jedes Verständnis seiner Künstlernatur. Eine von uns war zuwenig für einen solchen Mann, aber gemeinsam könnten wir ihn auf Händen tra-gen. Nur müßte er hier raus. Gisela, meine stärkste Verbündete, warf mir einen langen Blick zu. Sie dachte wie ich.
Kommt doch näher, Kinder, hier herein, rief die Frau und öffnete die Tür zu einem Wohnzimmer, nicht viel größer als das unsere. Wie angewurzelt blieb ich stehen, die anderen drängten nach, staunten wie ich, was die Frau sichtlich vergnügte, während Geffken seinen Kopf so schief legte, als wolle er ihn unter einem Schulterflügel verbergen. Stand da wie ein kranker, verrenkter Marabu, während die Frau eines der Kissen zurechtrückte, eines der vielen Kissen neben all den Decken und Tischläufern, Wandbildern und Wandbehängen, Teppichen und Brücken, die Wände und Boden, jeden Gegenstand des Zimmers bedeckten. Ich rieb mir die Augen, stockte, fürchtend, verschluckt zu werden von dieser garnverhangenen Höhle und zu einem Deckchen, einer Troddel, einer Spitzenkante verdaut.
Auf beiden Fensterbänken blühten Azaleen und Alpenveilchen, abwechselnd rosa und rot. Ein polierter dunkler Schrank mit Glastüren, dahinter geraffte Häkelgardinen.
Alles selbstjemacht, sagte die Frau, zusammen mit der Mama, die macht dat Klöppeln und isch die Bilder, Petit Poäng nennt man dat, nit, Justav? Nu setzt eusch doch, Kinder. Jetzt jibbet wat.
Uns zweimal in so kurzer Zeit Kinder zu nennen war nicht klug. Dazu dieses >Justav<. Unser Gustav, Gustav Geffken, der die makellose Sprache Schillers liebte, den Monolog des verstoßenen Karl Moor so herzergreifend zu deklamieren wußte, hier war er Justav. Ich setzte mich auf einen Petit-Poäng-Hasen im Gras, lehnte mich an eine Plattstichente mit Spitzenüberwurf, neben mir drückte sich Edda auf ein flauschgewirktes Perlhuhn, Christel auf ein Kreuzstich-Kitz.
Geffken räusperte sich. Das war, das war, hm, hm, sehr schön, hm, hm, sehr ungewöhnlich. Wirklich, ja, sehr ungewöhnlich. Er war es, und er war es auch wieder nicht. Die vollen Lippen waren es und die warme Stimme, die blaurasierten Wangen, der verhangene Blick. Doch was immer er von nun an sagen oder tun würde, Plattstich und Petit Poäng stünden zwischen ihm und uns. Wenn wir ihn nicht erlösten. Mittlerweile hatte die Frau uns Kakao und Napfkuchen vorgesetzt. Beides schmeckte. Wir mußten uns etwas einfallen lassen.
Und jetzt, sagte die Frau, geheimnisvoll winkend, kommt mal mit. Geffken strahlte. Sachte drückte sie, Psst! die Klinke zu einem Zimmer am Ende des Ganges. Behutsam, beinah zärtlich schlich die schwere Frau in den dämmerigen Raum. Wir hinterher. Psst, sie legte ihren kurzen Finger auf den Mund. Ein Junge, flüsterte sie in das Kinderbettchen. Justav Josef heißt er, wie sein Vater. Geffkens Augen schauten nicht mehr im mindesten verhangen. Besonnen, innig und offen gingen seine Blicke zwischen Sohn und Mutter hin und her. Geffken war ein Vater.
Bei mir wirkte es sofort. Bei Gisela, als wir die Haustür hinter uns zuschlugen. Laut und höhnisch lachte sie auf, als Edda das süße Baby, das hübsche Baby zu preisen begann, als wäre es ihres. Fast hätte es Streit gegeben zwischen den beiden.
Nach diesem Besuch kam es vor, daß Geffken sich bei einem Vortrag klassischer Verse mit Spitzen, Kreuzstich, Plattstich, Petit Point, mit Troddeln, Bommeln, Quasten und Bordüren bedeckte und, gestickte Seidenpantoffeln an gekreuzten Beinen, in einem golddurchwirkten Kissen versank. Geffken, unser Deutsch- und Musiklehrer. Weiter nichts. Gisela stotterte beim Aufsagen wie eh und je, Doris kam wieder in gewöhnlichen Kleidern zur Schule, Karola kämmte sich die Haare nur noch zu Hause, ich stellte keine neunmalklugen Fragen mehr. Nur Edda machte auch nach unserem Auftritt kaum noch Kommafehler. Und ich blieb der Grammatik und den schönen Sätzen treu.
Ferdi war nun anderthalb Jahre tot. Auf dem Kiesberg, dort, wo Rudis
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