Das verborgene Wort
Heiliger.
Noch immer teilte ich das Schlafzimmer mit dem Bruder, nur den Nachttopf teilten wir nicht mehr. Ich benutzte den des Großvaters. Einen eigenen Tisch oder eine Kommode, ein Schränkchen oder auch nur eine eigene Schublade für meine Sachen hatte ich nicht. Zwischen unseren Betten stand ein Nachtkästchen. Für einen Groschen Monatsmiete überließ mir der Bruder seine
Hälfte und schnitzte mir zudem aus Holzklötzchen zwei Kerzenständer. Der Großmutter schwatzte ich zwei gesprungene Einkochgläser ab.
Aus Piepers Laden besorgte ich mir einen Pappkarton, klappte seine Oberteile rechts und links auseinander wie die Flügel eines Altars und beklebte das Ganze innen wie außen silbern, und aus Nappopapier schnitt ich bunte, glitzernde Sterne.
Für den Schönen selbst bespannte ich die Pappe von einem alten Zeichenblock mit hellblauer Kunstseide, Hanni hatte mir den Fetzen - er war von ihrem Holländerkostüm übriggeblieben - einmal geschenkt. Mit dem Brotmesser trennte ich Schillers Bild aus der >Silberfracht<, legte es auf die Pappe und überzog das Ganze mit Zellophanpapier. Machte ihn haltbar wie die Großmutter ihre Marmeladen und Gelees. Dem ellenbogenhohen Herzjesu aus Gips setzte ich den silbernen Pappkarton vor die Nase. Rechts und links die Einmachgläser, Blumen würde ich morgen pflücken. Davor die Kerzenhalter. Kerzen fehlten mir noch. Alles überragend, mein Schiller auf schimmerndem Silber. Ein Gott.
Öm Joddeswille! schrie die Großmutter, als sie den Aufbau sah. Wo is dä Jesus?
Ehe sie zugreifen konnte, zog ich die Figur vorsichtig hinter Schiller hervor. Wortlos verschwand sie damit in ihrem Zimmer. Gottlob hatte sie nicht bemerkt, daß mein Silberpapier aus ihrer Sammlung für die Heidenkinder kam.
Die Mutter nickte beifällig. Ein Altar war etwas, das sie verstand. Verehrung war ihr nicht fremd. Schiller, sagte ich, heiße der Mann auf der blauseidenen Pappe, ein Dichter.
Och, su süht dä us, sagte die Mutter.
>Festjemauert in der Erden, steht die Form aus Lehm jebrannt, heute soll die Jlocke werden, frisch, Jesellen, seid zur Hand, von der Stirne heiß rinnen muß der Schweiß.<
Aufrecht stand die Mutter vor dem Nachtkästchen zwischen unseren Betten und hielt die Finger vor dem Magen verschlungen wie in der Kirche. Sie formte Wort für Wort, jede Hebung und Senkung der Silben, jedes Reimwort betonend, um jedes G und Ch bemüht, überdeutlich, als spräche sie eine fremde Sprache.
Errötend wie eine ertappte Schülerin, brach die Mutter ab, beugte sich verlegen über das Abbild und murmelte: Un dä hät dat jeschrievve? Ne feine Mann. Nä, nä. Un jitz schlooft jut, Kenger.
Lange noch ging mir die Stimme der Mutter im Kopf herum; diese Stimme, die so gewöhnlich klang, wenn sie mit der Großmutter, der Tante, den Nachbarn sprach; zaghaft, unterwürfig, verstohlen, wenn sie sich dem Vater näherte; mürrisch, wenn es um mich, besorgt, wenn es um den Bruder ging; eine warme Altstimme, die Marienlieder sang; gedankenlos und mechanisch, wenn sie in den Andachten endlose >Gegrüßet seist du, Maria< klapperte. Ich hätte gern noch mit dem Bruder über dieses Wunder gesprochen, das Wunder einer Mutter, unserer Mutter, die ein Gedicht aufsagen konnte. Doch der schlief schon, erschöpft von den wilden Jungenspielen am Rhein.
Wieder kaufte ich ein Schreibheft: Briefe an Schiller. Friedrich, schrieb ich, und sah ihn vor mir, einen mittelgroßen, schlanken Mann mit träumerischen Augen und feingezeichneten Brauen; in seine Nase war ich verliebt und sein Haar, das für mich, auch als ich wußte, daß es rot war, in weichen, dunklen Herzjesulocken auf die Schultern fiel. Und manchmal schimmerte durch sein ewig junges Gesicht das des Großvaters, der auch Friedrich geheißen hatte, Fritz.
Friedrich, schrieb ich, ich bin allein. Wie Du. Ich bin gerne allein, weil ich dann an Dich denken kann. Du weilst in der Ferne und blickst nach den Sternen. Ich sehe dieselben Sterne wie Du, und manchmal singe ich: Guter Mond, du gehst so stille. Dann denke ich nur an Dich, Friedrich. Ich habe Dir einen Altar gebaut - hier folgte eine ausführliche Beschreibung. Du bist so schön. Bis morgen. Deine Hildegard Palm.
Friedrich, schrieb ich. Ich habe heute meinen Aufsatz zurückgekriegt. Eine Eins. Das Thema: Warum wollte Amalie sterben? Ich schreibe Dir den Aufsatz ab und lege ihn bei. Mit tausend Grüßen. Deine Hildegard Palm.
Ich schrieb an Schiller, wie ich vor Jahren mit Frau Peps geredet hatte,
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