Das verborgene Wort
aufgeregt und eifrig beigesprungen. Beide hätten dann in die Schublade gestarrt, als hätten sie dort was verloren. Maria habe ein Taschentuch herausgezogen, mit rosa Häkelborden - Bertram! rief ich -, in die Faust geknüllt, und Heribert habe zu ihm, dem Bruder, gesagt: Nun sach doch dem Maria auch mal juten Tach. Maria habe ihm übers Haar gestrichen, was sie noch nie getan hatte, und gesagt, er könne ja nichts dafür. Und er solle mich fragen, ob ich etwas zu lesen habe für sie. Aber nichts mit Liebe.
Drei Wochen lang versorgte ich Maria mit Edgar Wallace und Agatha Christie. Dann durfte sie nach Hause. Sie war krank geschrieben, aber von Woche zu Woche gab es weniger Krankengeld. Die Tante drängte sie nicht zur Arbeit, doch Mutter und Tochter fürchteten die Papiere, den blauen Brief. De Wäv hatte seit längerem immer weniger zu tun, immer mehr Arbeiter wurden entlassen. Frauen zuerst. Auf sie warteten schönere Aufgaben als Frau und als Mutter, befand die Mutter, die mich, seit wir die gleichen Strickbinden trugen, immer häufiger in alles einbezog, was der Vater verächtlich Wieverkrom, Weiberkram, nannte. Mit ihm hatte ich monatelang kein Wort mehr gesprochen. Er schlug mich nicht mehr. Begnügte sich damit, mir die Arme auf den Rücken zu drehen oder meine Hände zu quetschen und mich dabei so weit vom Leib zu halten, daß ich ihn mit den Füßen nicht erreichen konnte. So standen wir Auge in Auge, bis ich vor Schmerz in die Knie ging.
Als ich Maria zu Hause besuchte, brachte ich ihr Nachschub aus der Borromäusbibliothek und zwei Früchtejoghurts mit, die ich eigens in Großenfeld gekauft hatte. Doch Maria schob mir die Gläschen mit einem schiefen Lächeln wieder zu: Das sei vorbei. Sie esse jetzt wieder anständig, bekräftigte die Tante, heuteabend gebe es Graupensuppe, ob ich mitessen möchte. Ich konnte den Blick von Maria nicht lösen. Sie aß ohne Hunger, ohne Lust, tauchte den Löffel in die Suppe, schob ihn zwischen die Lippen, zog ihn heraus, schluckte, tauchte, schob hinein, wortlos, pausenlos, weder langsam noch schnell, den Blick auf den Herd gerichtet, wo der Topf stand, Eßmaschine, Maria Olympia. Bei jeder Aufwärtsbewegung ihrer Rechten blähte sich der Stoff ihrer leeren Blusenhälfte im Luftzug und fiel beim Absenken des Löffels wieder zusammen. Die falsche Brust schnallte sie sich nur zur Kirche um. Asse, ässe, nickte die Tante ermunternd, ässe un drinke hält Leib un Seele zesamme! Maria aß, bis der Topf auf dem Herd leer war. Nach der Suppe machte sie eine Schachtel Pralinen auf. Früher hatte sie Süßigkeiten verabscheut. Ich ließ meine Weinbrandkirsche noch andächtig im Munde schmelzen, als Maria beinah alle zerkaut hatte, wortlos, genußlos wie zuvor die Graupen.
Bes de ald widder bei de Prallines, sagte die Tante und klaubte sich das letzte Stück aus den plissierten Pergamenttütchen, du friß mer noch de Hoor vum Kopp.
Die Mutter seufzte. Et bliev em jo nix mieh. Dä Häbäät kütt jo och nit mieh.
Meine Brüste waren jetzt, wenn ich samstags in der Zinkwanne lag, zwei Inseln im Wasser. Ich rieb sie, sanft und stolz. Doch wie schüchtern betrat ich wenige Tage später Alma Maders Laden. Als Tochter eines Regierungsbeamten zählte Alma Mader zu den Honoratioren des Dorfes. Sie hatte nie geheiratet und nach dem Tod der Eltern das Wohnzimmer des günstig gelegenen Hauses in einen Ladenraum umgewandelt. Hier verkaufte sie alles, woran auch ihr eigenes Herz hing, Hüte vor allem, die sie selbst herausputzte, Handschuhe, Mützen und Schals, Unterhemden und Schlüpfer, Büstenhalter und Korsetts der feineren Art; für gewöhnlich besorgte man seine Unterwäsche bei Botts Zilli oder dem Wäschemann. Auch Strümpfe mit Laufmaschen brachte man zu Alma, erst die aus Kunstseide, später die aus Nylon und Perlon.
Alma selbst war die beste Reklame für ihre schönen Dinge. Man ahnte den lachsfarbenen Seidendamast unter ihrer hoch-wogenden Bluse, das spitzenverzierte Hemd - Unterkleid nannte sie es - blitzte im Sommer aus dem dezenten Ausschnitt, die Nähte ihrer Strümpfe saßen wie mit dem Lineal gezogen. Im sonntäglichen Hochamt drehten sich die Köpfe nach ihren immer neuen Hüten um, die, wie sie ihren besseren Kundinnen anvertraute, weniger neu als nur >frisch garniert< waren.
Sie sollte wissen, ich konnte zahlen. Mit Nachdruck legte ich mein Portemonnaie auf die Theke. Ein rotes Lederherz, das mir der falsche Großvater mit einem Zehnmarkschein am Weihnachtsfest nach
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