Das verborgene Wort
etwas anderes vor, ich hole einen Doktor. Das Röcheln wurde leiser, der Griff härter. Ich stöhnte. Die Mutter riß das Fenster auf. Et treck, es zieht, beschwerte sich Maria. Die Mutter machte das Fenster wieder zu. Schritte auf dem Flur, die Tür sprang auf. Herein kam der Arzt, ein kleiner, rothaariger Mann in einem viel zu langen Kittel, aus dem nur seine blankpolierten Schuhe herausschauten. Hinter dem Doktor die Krankenschwester, auf dem Tablett eine Spritze. Für einen Augenblick drang von draußen das scheppernde Geräusch von Geschirr und Besteck herein. Ich sah die Spritze und begann wieder zu zerren, ein Blick der Krankenschwester verhinderte, daß ich auch wieder zu schreien anfing.
Die Verwandten standen im Halbkreis um mich herum. Maria war vergessen. Lässig, spielerisch fast, zog der Doktor die Bettdecke herunter, drehte den ausgemergelten Körper auf den Bauch und stach die Nadel in eine Gesäßhälfte, wie ich sie von den Fotos verhungernder Heidenkinder in Afrika kannte. Die Hand gab nach, ich zog, war frei, stürzte zu Marias Bett, wo ich meinen Kopf schluchzend in die warme Höhle zwischen ihrem Arm und ihrer weichen Brust preßte. Hörte, wie jemand die Vorhänge um das Bett des Wesens zog und die Stimme des Arztes: Rausfahren! Zwei kräftige, junge Männer rollten das Bett mit wehenden Vorhängen und quietschenden Kugellagern hinaus, die Schwester einen zweistöckigen Wagen mit dem Abendessen hinein. Der gestärkte Stoff des Kittels spannte sich über ihren Brüsten.
Die Besuchszeit war zu Ende. Ich putzte mir die Nase. Wortlos umarmten wir die Kranke. Bes demnächs, würgte die Tante heraus, drehte sich an der Tür noch einmal um: Mer bäde för desch!
Maria, weiß wie das Verbandsquadrat auf ihrem rechten Oberkörper, sagte nichts mehr. Ich fühlte mich schuldig. Als hätte ich Maria etwas weggenommen. Zesch ens de Hand, sagte die Mutter, drehte und wendete meine Rechte. Bis auf einen Kratzer am Gelenk war nichts zu sehen.
In der Straßenbahn setzte ich mich neben Hanni, nicht ans Fenster. Kein Lärm, keine Stille. Alltagsgeräusche. Ich musterte meine Hand. Nichts zuckte. Nicht im Zug und nicht in der Straßenbahn. Hanni rückte immer wieder ihren Büstenhalter zurecht, Körbchen rechts und Körbchen links. Gottseidank, sagte sie, dat esch däm Maria dat Nachthemd nit jejeben hab. Der Ausschnitt... Aufschluchzend beschrieb Hanni mit der Hand einen tiefen Halbkreis vor ihrer Brust. Auch ich hatte das Buch wieder mitgenommen. Wundmale waren schlimm. Ein leerer Fleck statt einer Brust war schlimmer. Und heilig wurde Maria davon auch nicht.
Zu Hause schrubbte ich meine Rechte, die Sensenhand, die Krallenhand, mit der Wurzelbürste für die Blaumänner des Vaters bis aufs Blut. Nachts träumte ich vom Mond. Er war rund und voll, wanderte und fragte, ob ich mit ihm wandern wolle. Ja, sagte ich, ich wandre mit, da nahm er ab, da nahm ich ab, er wurde halb, ich wurde halb, dann Sichelmond, dann sichelich, dann war er weg. Für immer. Er war weg. Und mit ihm die Stille, seine Belohnung.
Im Dorf begegnete man uns, den Angehörigen Marias, neugierig und betreten, fast so, als seien wir mit von der Krankheit befallen. Ist es ernst, wurden wir gefragt, was soviel hieß wie: Muß sie sterben?, und ich schüttelte den Kopf, während die Mutter die Rippen vorschob und die Schultern an die Ohren hob.
Heribert besuchte Maria ein einziges Mal. Mit dem Versprechen, ihm ein Geduldsspiel zu schenken, größer und schwieriger als das in Kaisers Schaufenster, verlockte er den Bruder, ihn zu begleiten. Stundenlang konnte Bertram regungslos sitzen, nur die Augen umherflitzen lassen, zwei hungrige Insekten auf der Jagd nach Beute. Doch gesprächig war er nicht. Viel Zeit und zweimal einen Groschen kostete mich dann die Geschichte. Heribert sei zuerst allein in das Zimmer gegangen. Fünf Minu- ten solle er warten, Uhrenvergleich. Dann habe er angeklopft, was wir nie getan hatten, und sei reingegangen. Er habe auf der Uhr im Gang den Sekunden- und Minutenzeiger beobachtet. Ob ich wisse, wie lang eine Minute sei? Und gar erst fünf? Allen Ernstes wollte der Bruder seinen Bericht hier unterbrechen und fünfmal bis sechzig zählen. Ein Fünfer brachte ihn davon ab, ein weiterer, sich über Fußboden, Lampen, Gardinen, kurz, die Innenausstattung eines Krankenhausganges, auszulassen.
Maria habe im Bett gesessen wie ein Schneewittchen, >so rot wie Blut, so weiß wie Schnee<... >so schwarz wie Ebenholz<, ergänzte
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