Das verborgene Wort
stämmigen Beine schwankten auf zierlichen Pfennigabsätzen. Auch Helmi und Gretel glänzten im Sonntagsstaat, schwangen ihre Röcke über den Petticoats und tupften mit gestreckten Handflächen behutsam an ihren vor Haarlack starrenden Frisuren herum. Gretel hatte versucht, ihr feines Blondhaar zu toupieren, doch die Decksträhnen waren zu dünn, und der Aufbau klebte ihr überm bleichen Gesicht wie ein zerrupftes Hühnernest. Birgit zog ihre weißen Söckchen aus und steckte sie rechts und links in die Bluse.
Oder bes de dir ze schad dofür? Du bes jo jitz jet Besseres, wo de op de Scholl jehs, stichelte Helmi, als ich noch immer schwieg. Mit dieser neidischen Bosheit war ich leicht zu treffen. Ich ließ mich anmalen und duldete, daß Helmi den Gürtel meines Sonntagskleides eng zog, bis ich kaum noch Luft kriegte. Den Ekel über den süßlichen Geruch und schalen Geschmack des Lippenstiftstummels würgte ich wortlos hinunter. Und ging mit.
Sie standen hinter dem Schilf, da, wo es am höchsten und dicksten wuchs, da, wo der Großvater die langen Rohre für die Flöten geschnitten hatte und der Vater die Stöckchen. Es waren keine Jungen aus dem Dorf. Es waren Männer. In ihren Anzügen und weißen Hemden hätten sie sich in jeder anständigen Dondorfer Wirtschaft sehen lassen können, wäre nicht ihre Haut eine Spur zu dunkel, Augen und Haare zu schwarz gewesen. Helmi, Birgit, Gretel und Sigrid gingen geradewegs auf die Gruppe zu, aus der sich vier Gestalten lösten, die ebenso zielstrebig eines der Mädchen ergriffen und mit ihm engumschlungen hinter den Kopfweiden verschwanden.
Ich war stehengeblieben, so, wie der fünfte Mann, der jetzt mit dem Absatz die Zigarette ausdrückte, in seine Tasche fuhr, eine Weile herumkramte, bis er, was er dort gefunden hatte, mit flacher Hand in den Mund schwang. In die Sonne blinzelnd, konnte ich nur die Umrisse seiner Statur erkennen. Jetzt, da die anderen in den Weiden beschäftigt waren, hätte ich leicht weglaufen können. Doch wie er da so dunkel und verloren im Schilf stand, spürte ich diesem Schatten gegenüber ein Gefühl aus Neugier, Mitleid und Überlegenheit. Ich stellte meinen Gürtel wieder drei Ösen weiter, zerrte mein linkes Söckchen aus dem Schuh und tat einen Schritt auf ihn zu. Der Mann machte ein, zwei Schritte mit steifen Beinen und wiegenden Hüften, als ginge er auf einem Schiff. Dann blieben wir wieder stehen. Wangen und Kinn schimmerten bis in den Hemdkragen hinunter bläulich-schwarz, schwarz wucherten dichte Augenbrauen über schwarzen Augen, schwarz war auch sein Haar und schon gelichtet über der hohen Stirn. Er summte. Summte unentwegt, Melodien, die ich nicht kannte, langgezogene Töne, die er tief in der Kehle, im Brustkorb, in seiner ganzen Gestalt zu erzeugen schien.
Guten Tag, Fräulein, schwerfällig stieß er die Silben hervor. Es war die Nase, die seine Gesichtszüge beherrschte, stattlich und schwungvoll wie die meines Friedrichs.
Guten Tag, sagte ich. Guten Tag, Friedrich, sagte ich, als könne ich den Mann damit bannen, dorthin, wo er hingehörte, in ein Buch, auf eine Postkarte, in den blauseidenen Rahmen auf meinem Altar. Komm, Fräulein, lachte er, rauchverfärbte, schiefe Zähne zeigend, doch sein Atem wehte zu mir herüber wie ein Treibhaus voller Veilchen. Komm, sagte er wieder und griff nach meiner Hand, die ich hastig hinter den Rücken schob, die andere auch. So, mit gekreuzten Armen hatte ich als kleines Kind vor dem Vater gestanden. Aus den Weiden, wo es eine Weile ganz still gewesen war, vernahm man nun Kichern und Seufzen, dann einen Schrei, wie ich ihn einmal gehört hatte, als der Großvater im letzten Stadium war und Morphium bekam. Dat Helmi, schrie ich und wollte zu ihr hin, helfen, doch mein Gegenüber packte mich bei der Schulter, rief etwas in einer fremden Sprache und lachte; ein vierfaches Echo rissiger Männerstimmen lachte aus den Weiden zurück.
Komm, Fräulein, der Mann drehte mich um wie eine Spieldosenfigur und schob mich vor sich her, von den Weiden fort, in die offenen Wiesen. Von weitem zuckte der Kirchturmhahn in der späten Nachmittagssonne. Nun wäre ich gern davongelaufen, aber die Hand umklammerte meine Schulter, und bei jedem Versuch, mich herauszuwinden, griff sie härter zu. Spaziergänger gab es hier keine. Wer nicht auf dem Damm blieb, ging zu zweit in die Weiden, nicht in die Wiesen. Der Mann hatte wieder zu brummen begonnen. Name, sagte er jetzt, Name, Name. Wie du heißen? Seine Stimme
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