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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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war heiser und mühsam.
    Maria, log ich, als mache mich der falsche Name zu einer anderen, einer Figur in einem Spiel, das nichts mit mir zu tun hatte. Maria, schrie der Mann, Santa Maria, Mama mia, verdrehte die Augen, warf den Kopf in den Nacken und wieder auf die Brust, brach in die Knie, kniete vor mir, hielt meine Schulter, sein Kopf beinah auf gleicher Höhe mit meinem. Mariaah, sang er dicht vor meiner Nase, sein Veilchenatem so sämig und warm, als könne man ihn schlecken wie Kompott.
    Er ließ meine Schulter los, sprang hoch und nahm meine Hand. Seine fühlte sich an wie die Eierkohle, die wir vor ein paar Tagen eingekellert hatten, grob und fest, nur aus Muskelwülsten zusammengesetzt. Maria, Maria, seufzte er, und ich zog ihn, besorgt, er könne vor meinem falschen Namen wieder auf die Knie fallen, schneller mit mir fort. Er summte nicht mehr. Er sang. >Santa Maria, Madre Jesus, Halleluja.< Manches klang wie Latein, aber weicher, fließender, Veilchenpastillen-Latein. Und dann sang er, kein Zweifel, er sang: >Maria zu lieben!< >Ist allzeit mein Sinn<, fiel ich leise ein. Der Mann blieb stehen, verstummte, wie vom Donner gerührt, sanft drehte er mich an den Schultern zu sich hin: Maria, sagte er und dann ein paarmal etwas, was wie >paura< klang, niente paura.
    Geradewegs zu den Wiesen gingen wir, >Maria zu lieben<, sangen wir, >ist allzeit mein Sinn. In Freuden und Leiden ihr Diener ich bin.< Mit einem Mann, der Marienlieder sang, konnte ich auch in die Wiesen gehen. Wir hatten die dritte Strophe noch nicht zu Ende gesungen, da waren wir bei den ersten Büschen angekommen. Immer noch singend, zog der Mann seine Jacke aus, legte sie sorgfältig über den Sand, der hier weiß und un- berührt war. Komm, Maria, sagte er. Doch bevor ich mich setzen konnte, hob er die Jacke wieder auf, kramte in ihrer Innentasche und holte etwas heraus, das er in der Handfläche verbarg. Wir setzten uns auf die Jacke. Der Mann sang nicht mehr. Der Mann summte nicht mehr. Murmelte unverständlich vor sich hin, paura hörte ich wieder, niente paura, und capelli, viele Male capelli. Ich merkte es mir gleich, weil es wie Kapelle klang. Dabei zog er an meinen Zöpfen, capelli, capelli, sachte, daß es auf der Kopfhaut kribbelte, als berühre sie dort eine Feder, ein Flaum. Sogar meine Ohren kriegten Gänsehaut.
    Federico, sagte der Mann und tippte sich an die Brust. Fede- rico und Maria. Capelli, sagte Federico und streifte meine Spange, einen markstückgroßen Marienkäfer am Gummiband, von meinem linken Zopf und nahm ihn, weiter murmelnd und summend, in den Mund. Er löste meine Zöpfe, wie mir noch niemand jemals die Zöpfe gelöst hatte. Strich mir mit seinen Eierkohlenhänden von den Schulterblättern den Nacken hinauf, fuhr mit gespreizten Fingern und leichtem Druck über die Kopfhaut, durchs Haar, die Ohren entlang bis zur Stirn, wo er den Druck ein wenig verstärkte, verharrte und das lange, lockere Haar mit einem Jauchzer der Befriedigung nach allen Seiten in die Höhe warf. Verzaubert hielt ich still. Überließ mich diesen Händen, die jetzt den Gegenstand hielten, den Federico zuvor aus der Jacke geholt hatte. Es war eine Gummischeibe, etwa so groß wie eine Untertasse, mit einem Knauf zum Anfassen auf der einen, auf der anderen Seite über und über mit Gummistoppeln besetzt. Italia, rief Federico, das Gebilde in die Höhe reißend wie eine Trophäe.
    Mit kurzen, vorsichtigen Strichen - eine Hand hielt das Haar an den Kopf gepreßt, damit nichts zerrte und zog - setzte er das Ding in Bewegung und strählte in immer kühneren Schwüngen mein Haar vom Scheitel bis in die Spitze, unermüdlich glitten die Gumminoppen über die Kopfhaut. Eine schnurrende, einverstandene Ruhe breitete sich in mir aus. Eine Ruhe, als gehörte ich dazu, zu den grauen Weiden und den naßglänzenden Kieselsteinen, dem Sauerampfer und dem Schleierkraut in den Wiesen, zu Käfern, Mücken und Fröschen, dem Holunder hinter dem verlassenen Schäferkarren, den Schafen am anderen
    Ufer, zu dem Strom und dem Abendwind und zum Himmel da droben auch.
    Federico, während er die Bürste unverdrossen durch mein Haar zog, sang nun all die Lieder, die er auf dem Weg hierher nur gesummt hatte, aus voller Kehle. Dann, als die Sonne untergegangen war, flocht er die Haare so sanft, wie er sie gelöst hatte, wieder zu zwei Zöpfen, wir gingen rasch zurück ohne Summen, ohne Singen, stumm. Ein Frachtkahn tuckerte langsam den Rhein hinauf, höher und lauter schlug

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