Das verborgene Wort
Von einer Brust zur anderen strich sein Lufthauch, durch das Brustbein drang es in den Rücken, Wirbel für Wirbel, hinauf und hinunter, bis ich es nicht mehr aushielt, auflachte, zappelte, mir die Jacke hochzog, zuknöpfte, vorn jetzt, wie sich's gehörte, und davonlief, ohne mich noch einmal umzudrehen. Schnell hatte er mich eingeholt. Maria, gurrte er, und bella, bella, bella und daß ich niente paura, keine Angst, haben sollte.
Außer mit Bürste und Atem berührte er mich nie. Er brachte mir ein Foto von seiner Familie mit, eine düstere Gesellschaft, wie mir schien, vor einem niedrigen Haus. Und einmal schrieb ich auf eine Postkarte an seine Mama: Maria.
Ich hatte Federico schon einige Male getroffen, da fingen mich Helmi, Birgit, Sigrid und Gretel wieder in den Anlagen ab. Ich kam von Cousine Maria. Sie packte jetzt Tuben in einer Großenfelder Fabrik, hatte von dem Zink an beiden Händen juckende, rote Pusteln mit gelben Eiterköpfchen und war deswegen krank geschrieben. Sie würde wohl auch hier ihre Papiere kriegen.
Es et dann schön, eröffnete Sigrid das Verhör.
Was, fragte ich.
Stell desch nit su domm!
Mit dem Federico! half Birgit nach.
Ach der, sagte ich.
Ja, der, äffte Sigrid. Du sühst den doch jede Sonndaach! Wat maat ihr dann su? Dä Kääl verzählt jo nix.
Das, dachte ich, wäre ja auch noch schöner. Andererseits - sollten die doch ruhig neidisch werden.
Er bürstet mich, sagte ich. Stundenlang.
Birgit wich einen Schritt zurück, Sigrid kam einen auf michzu. Gretel riß ihre schläfrigen Augen auf und schrie: Nä! Helmi wiederholte ergriffen, jede Silbe einzeln betonend: Ston de lang!
Ja, bestätigte ich. Zwei Stunden Minimum.
Un dat es wohr?! Sigrid rückte noch näher, ihre Stimme klang ungläubig und, ja, neidisch klang sie auch.
Du löß desch böschte? fragte Birgit und beäugte mich wie eine Maus die überfahrene Katze, ob sie nun wirklich hin ist.
Ja, warum denn nicht. Es ist wunderbar.
Jo, häs de dann keen Angst? Birgit konnte es nicht fassen.
Angst, wiederholte ich. Wovor denn? Der Federico ist so vorsichtig. So zart. Er sagt auch immer, daß ich keine Angst haben muß.
Dat sagen se all, fuhr Sigrid dazwischen. Ävver dat du desch böschte lös, nä, dat hät esch nit von dir jedacht! Waat ens. Sie gab den anderen Mädchen einen Wink; die gingen zur Seite und steckten die Köpfe zusammen. Ich verstand ihre Aufregung nicht, war aber mit meiner Wirkung zufrieden. Endlich hatten sie Respekt vor mir. Zärtlich nahm ich einen Zopf in jede Hand und strich von den Ohren zu den Spitzen an den Flechten hinunter, bis es im Rückgrat kribbelte, fast so wie unter der Weide.
Hür ens, Sigrid trat wieder auf mich zu. Wenn de desch böschte löß, han mer noch jet för desch. Auf dem Levisberg gebe Jo Kakkaller eine Vorstellung. Mit einem Huhn. Genaueres wüßten sie auch nicht. Am Samstag um vier auf dem Kiesberg, bei den Birken in der Kuhle hinter dem Ginster. Wenn de desch traust!
Der Levisberg galt als verrufener Ort. Hinter einem umzäunten Rechteck - Reste eines kunstvoll geschmiedeten Eisengitters, das mit Stacheldraht mehrfach umwunden war - lag der alte Judenfriedhof. Die Nazis hatten ihn verwüstet, nur noch ein geborstener Grabstein kämpfte sich durch Gras, Brennesseln, Disteln und Gebüsch. Op dem Levisbersch es et nit jeheuer, war die einhellige Meinung des Dorfes.
Jeder, der bei Jo Kackallers Vorstellung dabeisein dürfe, müsse ihm in die Hand versprechen, zu schweigen bis in den Tod. Jo Kackallers Hand zu berühren hätte mich beinah ferngehalten. Doch ich war den vieren schon einmal gefolgt, und das hatte zu Federico geführt. Ich ging hin.
Birgit, Helmi, Sigrid, Gretel und ich waren die einzigen Mädchen. Die Jungen warfen uns bewundernde und anzügliche Blicke zu und machten halblaute Bemerkungen, die ich nicht begriff. Verlegenes Gelächter flackerte auf. Vorn, bei den Kleinsten, entdeckte ich den Bruder. Er hatte sich feingemacht, sein schwarzkariertes Flanellhemd angezogen und seine dunkelblaue Hose und blickte unbekümmert, ja stolz um sich, bis er mich sah. Ertappt, schauten wir in verschiedene Richtungen.
Jo Kackaller ließ auf sich warten. Durch das Birkengrün flirrte die Sonne, Vögel als schwarze Silhouetten zwischen den Ästen. In weiter Entfernung schlich eine braungelbe Katze durch das dürre, fahle Gras. Ich strich mir übers Haar, als könne ich so die kräftigen Bürstenstriche Federicos spüren. Der Bruder stand jetzt wieder da, wie ich
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