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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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ihn kannte, den Kopf zwischen die Schultern gezogen, die Beine umeinandergewickelt, die Arme vor der Brust gekreuzt. Sollte ich ihn einfach bei der Hand nehmen und gehen? Da kam Jo.
    Er hatte Gesicht und Haare gewaschen. Unter den rotblonden, sprühenden Locken öffneten sich seine breiten Lippen zu einem matten Lächeln. Jo atmete immer nur durch den Mund. Er war klein, zu klein fast, aber stämmig, die Hosen eng und weißblau gestreift, von einem Ledergürtel gehalten, über und über mit Messingnieten beschlagen. Sein Oberkörper war nackt. Roter Pelz hing ihm wie ein Bäffchen vor der Brust und verschwand, dichter wachsend, in seiner Hose. Jo trug ein Huhn, ein gewöhnliches, weißes Huhn in seinen Armen, zärtlich wie ein kleines Kind oder ein Schoßhündchen. Es saß still, ruckte nur von Zeit zu Zeit, wie es Hühner tun, seinen Kopf nach vorn, als wollte es etwas aufpicken. Dann fiel ihm der prächtige rote Kamm übers Auge.
    Jo Kackaller begann der Henne schönzutun, als wäre sie ein Mädchen. Er nannte sie Mariechen und fragte, ob sie schon einmal einen Hahn gehabt habe. Los mesch ens Iure. Er drehte das Huhn dicht vor sein Gesicht, betrachtete es eingehend und fuhr ihm mit dem Finger hinten in die Öffnung. Das Huhn gackerte und zappelte, jetzt war es Jo Kackallers Zunge, die sich anstatt des Fingers zu schaffen machte. Das Gackern schwoll an. Die Birken, der Ginster, die Vögel, selbst der Wind schien zu verstei-nern wie wir, die wir dastanden und zusahen, wie Kackaller den Gürtel öffnete, die Hose. Ein dichter, roter Busch erschien, dichter und tiefer gefärbt als auf der Brust, etwas Purpurfarbenes stach aus dem Zinnober heraus, schwoll an, als Jo das Huhn von seiner Zunge löste und auf die geöffnete Hose herabsenkte. Helmi kreischte. In ihrer Stimme Bewunderung und Grauen. Lust. Keiner lief weg, und keiner griff ein. Das Huhn zuckte. Jo Kackaller schüttelte sich. Er schleuderte den Kadaver in den Ginster, ein Mückenschwarm stob auf. Was ihm da aus dem roten Busch stand und langsam in sich zusammensank, war über und über mit Blut und Kot verschmiert. Niemand sprach, niemand bewegte sich. Nicht einmal die Augen glaubte ich je wieder bewegen zu können. Sie hingen an diesem schmierigen Körperteil, als wären sie festgeklebt an Dreck und Blut.
    Dat nennt mer Liebe, sagte Jo Kackaller, zog den Reißverschluß hoch und machte den Gürtel wieder zu. Seine runden, weichen Lippen waren schon wieder zu ihrem Lächeln geöffnet, seine Augen blickten leer. Noch immer rührte sich niemand, sprach keiner ein Wort. Im Ginster hörten wir die Sprünge der Kaninchen. Bes en dä Tod, platzte eine halbwüchsige Stimme heraus. Ein paar lachten. Ich konnte mich wieder bewegen. Die anderen auch. Ich griff den Bruder bei der Hand, wir rannten nach Hause. Kauerten uns hinterm Hühnerstall zusammen und weinten. Aus Scham. Aus Erleichterung, es überstanden zu haben. Aus Mitleid mit uns selbst. Das rotschwarz karierte Hemd zog der Bruder nur noch an, wenn die Mutter darauf bestand.
    Tags darauf zu Federico an den Rhein zu gehen, brachte ich nicht fertig. Ich lief durch den schwülen Sommernachmittag am Levisberg vorbei, am Hohlriegel vorbei, in den Krawatter Busch, aus Furcht, mich zu verlaufen, immer geradeaus. Irgendwo, erschöpft an einen Baumstamm gelehnt, schlief ich ein. Donner weckte mich, mein Gesicht naß von Tränen. Vor meinen Augen Federico in seinem himmelfarbenen Anzug, mit seinen für mich geschrubbten Händen, seinem veilchenduftenden Mund, allein bei unserer Weide am Rhein. Ich jagte zurück. Den Waldweg, Hohlriegel, am Levisberg vorbei. Stürmte unter Blitz und Donner durch strömenden Regen, der triefende Rock schlang sichum meine Knie, die Zöpfe klatschten auf meinen Rücken. Flog durchs Dorf, durch die Felder, die Wiesen am Rhein, den Damm hinauf und hinunter, durch die Auen und warf mich unserer Weide in die Zweige. War er dagewesen? Gleichmütig hielt mir der Sand sein stachliges Regenmuster vor Augen. Es war makellos, nur der Abdruck meines Fußes zwischen den Büschen, am Ufer entlang. Drüben kletterte der Schäfer aus seinem Karren und dehnte sich in die Sonnenstrahlen zwischen den Wolkenfeldern. Pfiff seinem Hund, der kläffend aus seinem Unterstand sprang. Ich fror. Vorsichtig trat ich von einem Fuß auf den anderen, ich hatte mir in den nassen Schuhen Blasen gelaufen. Zähneklappernd hinkte ich durch die Auen bis an die Gabelung, wo Federico sich immer von mir getrennt hatte, humpelte bis

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